Mitleidende LustBartholomäus Spranger malt ein unkeusches Liebespaar

Im XIX. Canto seines Orlando furioso erzählt Ludovico Ariosto eine rührende Liebesgeschichte: Die Tartarenprinzessin Angelica, Objekt der Begierde fast sämtlicher Männer in Ariosts Versepos aus dem Jahr 1516 (Endfassung 1532), rettet den verwundeten sarazenischen Knappen Medoro vor dem Tod, indem sie ihn in einer abgeschiedenen Hirtenkate gesund pflegt. In dieser Zeit der pastoralen Idylle jenseits aller verrückten Ritterkämpfe verliebt sich die stolze und jungfräuliche Angelica in den jungen Recken, den sie im Anschluss an die ihm zugestandene erste Liebesnacht zum Mann nimmt. Die Flitterwochen in der arkadischen Waldabgeschiedenheit dauern über einen Monat, dann reist Angelica mit Medoro in ihre Heimat zurück, wo sie ihn zu ihrem König macht. Bartholomäus Spranger hat die Szene der Namenseinschreibung der Verliebten auf seinem Bild Angelica und Medoro dargestellt (Abb. 1). Er hielt es dabei offensichtlich nicht für seine Aufgabe, eine möglichst getreue Illustration des Ariost’schen Textes zu liefern, sondern malte eine autonome Umsetzung der Figurenschilderung und lieferte so eine kongeniale Darstellung der beschriebenen Paarkonstellation.


Wie Zeuxis aus den schönsten Einzelteilen der krotonischen Jungfrauen im Zeugungsakt der geheimnisvollen fusio die Schönste der Schönen, Helena, hervorbringt, so fusioniert Spranger seine beiden Liebenden zu einem einzigen, unentwirrbar ineinander verschlungenen Wesen, das auf den ersten Blick drei Füße und drei Hände zu haben scheint. Die Grenze zwischen den beiden Körpern wird durch das weiße Tuch überbrückt, das erst Angelicas Scham in seinem indezenten Faltenwurf mehr exponiert als kaschiert, um dann schlangenartig (Achtung: Sündenfall!) zum ansonsten gänzlich nackten Medoro hinüberzuwandern und neben dem von ihm verdeckten Zeugungsorgan aufrecht wachsame Haltung für die nächste Gelegenheit einzunehmen.


Die beiden sind eins geworden, verschmolzen wie Baum und Borke. Sie füllen mit ihrem Liebesglück den gesamten Bildraum aus, kaum dass für die spärlichen Acessoires, die Spranger doch irgendwo unterbringen musste, um die Szene wiedererkennbar zu gestalten, noch viel Platz bliebe (Medoros Berufskleidung als Knappe, Helm und Schwert, die er aber offenbar mühelos zu Boden geworfen hat; das Wasser des sich munter in den Vordergrund ergießenden Bächleins, von dem Angelica ihren Fuß wollüstig stellvertretend überschwemmen lässt; der Felsen als Sitzgelegenheit und schließlich, am wichtigsten, der Baum, in den Medoro mit einem Stilettmesser, das an seine von Angelica geheilte Wunde erinnert, ihre Namen oder Initialen einschreibt).


Für einen Dritten ist im Bild natürlich erst recht kein Platz mehr – wie der rasende Roland bei Ariost schmerzlich erkennen muss, als er die omnipräsenten Namen der beiden Liebenden »vielfach verschlungen« entdeckt. Diese (Doppel-)Monade ist sich auf immer selbst genug. In ihr haben sich zudem zwei Ausländer von einer tendenziell feindlichen Umwelt abgekapselt: Angelica, die Prinzessin aus Nordchina, und Medoro, der Sarazene. Ihr Akt der Namenseinschreibung wird damit auch eine eindeutige Identitätsstiftung in der Fremde in unverwechselbarer Schrift, die wechselseitig vorgenommen wird und alle anderen, selbst die gleichen Namens, ausschließt. Vergeblich versucht Orlando, sich seine ihn schließlich unausweichlich in den Wahnsinn treibende Entdeckung schönzureden. Aber er betrügt sich damit nur selbst und kann die Augen vor dem Offensichtlichen letzlich nicht mehr verschließen: Die Gattenbeziehung zwischen Angelica und Medoro zeichnet sich durch absolute Reziprozität, höchstes Glück, Erfüllung aller Sehnsüchte und Heilung aller Wunden aus.


Warum sind die beiden das ultimative match, um es in Tindersprache zu formulieren? In einem ersten Anlauf, weil Angelica endlich denjenigen gefunden hat, der ihr in ihrem herausragendsten Merkmal, das zugleich eine Last und ein Stigma für sie darstellt, ebenbürtig ist, nämlich in der Schönheit. Er hat es daher nicht nötig, ihr erfolglos nachzustellen, sie wie ein irres Reh durch die Wälder zu jagen, wie es all seine glücklosen Vorgänger getan hatten. In diesen jungen, unschuldigen, unaufdringlichen, in seiner potentiell aggressiven Männlichkeit geschwächten Epheben kann sie sich endlich verlieben, ohne befürchten zu müssen, wieder eine Enttäuschung zu erleben oder als Siegespreis für Usurpatoren ihrer Jungfräulichkeit ausgesetzt zu werden. In dieser Beziehung darf sie die Stärkere sein, was ihrem Naturell durchaus entgegenkommt. Denn sie ist einerseits helenagleich blond und schön gegeben, zugleich aber als Femme forte. In einer Art Gender-Rollentausch ist Angelica im Bild die dominante Persönlichkeit. Ihr Griff unter Medoros Kinn ist nicht nur zärtlich, sondern auch richtungsweisend auf das einzige Objekt seiner Begierde hin, das er nach dem vor die Ehe vorverlegten Vollzug fürderhin noch ansehen soll und darf. Ihre spitz aufgerichteten Brüste reckt sie ihm herausfordernd als ganz andere Waffen als die abgelegten auffordernd entgegen. Ihr herrliches gelb-rot-goldenes Tuch, das in einer Art Würdeformel – sie aureolartig hinterfangend – eingefroren scheint, ist in der ikonografischen Tradition eigentlich dem Göttervater Jupiter, also Superman, vorbehalten. (Abb. 2)

Angelica beherrscht ihren Mann auch körperlich durch ihre ihn überragende Stellung im Bild. Das entspricht Ariosts Text, in dem sie als die Aktive, er als der (notgedrungen) Passive in der Beziehung gezeichnet ist: Nach seiner Heilung folgt Medoro ihr wie ein Hündchen seiner Herrin, wohin es ihr gefällt, sie entscheidet, wann es genug ist mit den Schäferspielen, und sie beschließt, ihm ihren Thron zu verleihen. Nur ein einziges Mal täuscht sie sich in ihrem Aktivismus, indem sie ihm ihre Liebe zu gestehen glaubt – aber diese Aktion ist nur Amors gezielt abgeschossenem Pfeil geschuldet, der als einziger ihren Schutzpanzer aggressiven Männern gegenüber durchdringen kann.


Um das Gefälle nicht zu groß und den daraus dann doch wieder resultierenden Kampf der Geschlechter nicht zu bedrohlich werden zu lassen, wertet Spranger in seinem Bild die Rolle des Medoro in zweifacher Hinsicht auf: Entgegen der Textvorlage, in der Angelica den Griffel selbst in die Hand nimmt, um in manisch überschießendem Einschreibungsdrang die Rinde jedes Baumes, der nicht bei drei auf dem Baum ist, mit ihren Namen zu penetrieren (und selbstverständlich nennt sie sich dabei zuerst), darf hier Medoro zum Autor der Inschriften werden. Er wird damit zum Double des Malers, der diesen Einschreibungsakt als Festschreibung des größtmöglichen Glücks in einer von idealer Wechselseitigkeit gekennzeichneten großen Liebe für alle Zeiten im Bild stillstellt und für jeden Betrachter – ob verliebt oder wahnsinnig –, der jemals wieder daran vorbeikommen wird, auf ewig dokumentiert. Das sind paradiesische Zustände vor dem Sündenfall, die unbedingt auf Dauer gestellt werden müssen. In diesem Honeymoon, in dem sich die beiden Turteltäubchen von ihrer Liebeskrankheit erholen können, und endlich zur Ruhe finden dürfen, ist das Goldene Zeitalter angebrochen, das bekanntlich aus der Geschichte gefallen und dadurch zeitlos ist wie Sprangers Bild. Und in der aetas aurea darf man sich dem Liebesakt ganz ungeniert und frei von sexuellen Restriktionen besten Gewissens hingeben.


Spranger fand offensichtlich die Figur der Angelica rasend attraktiv – und zwar mit ihrer gesamten Vorgeschichte, die sich in seinem Bild gewissermaßen ex negativo im hier perfekten Liebesglück abzeichnet. Denn es gibt eben auch die ganz andere Angelica, die erst in dem Moment schwach werden darf, als sie sich in christlicher Caritas und Compassio dem durch seine Wunde fast tödlich Geschwächten hingibt und ihn heilt. Angelicas einfühlendes und selbstvergessenes Mitleiden geht im Text so weit, dass sie Schmerzsymptome an der Wunde ihres Herzens empfindet, die ihr Amors Pfeil während der hingebungsvollen Pflege von Medoros Wunde zugefügt hat. Da sie dieses Gefühl noch nie erlebt hat, weiß sie erst gar nicht, wie ihr geschieht und kann keine zutreffende Diagnose ihres Leidens stellen. In absoluter Reziprozität öffnet sich ihre Wunde in dem Maße, in dem sich die seinige schließt. Angelica selbst verwandelt sich im Prozess des Sich-Verliebens vom michelangelesken Mannweib (Abb. 3), voll der Hybris, der keiner gut genug ist, um ihre »erste Rose zu pflücken« in eine raffaeleske Caritas romana, an deren Brüsten man ungestraft und keusch saugen darf, um zu überleben und geheilt zu werden – wenn nicht gar in eine Maria lactans. In jedem Fall aber spielt sie auf die Schmerzensmutter der Pietà an, die ihren geliebten Sohn und Bräutigam vor dessen himmelfahrender Heilung auf dem Schoß birgt.

Aber: Die Com-Passio trägt die Passion/passion im doppelten Wortsinn in sich. Und so geht es auch auf Sprangers Bild alles andere als nur keusch oder innig zu. Der Maler hat einen eindeutigen Indikator in der Beinhaltung der Figuren angebracht, der dem zeitgenössischen Betrachter ganz klar zeigte, dass es hier gleich mächtig zur Sache gehen wird: das sexuell konnotierte Motiv des übergeschlagenen Beines als Abbreviatur des Koitus. Vielleicht könnte man sogar so weit gehen, in Sprangers Darstellung seiner Kompositfigur Angelica&Medoro eine kongeniale Ab-Bildung der Verse zu sehen, mit denen Ariost die Form der Einschreibungen schildert: »Und wo sie einen Baum im Widerscheine / Des klaren Quells, des Bachs sich spiegeln fand, / So auch bei jedem minder harten Steine, / War sie mit Nadel, Messer gleich zur Hand. / Und so ward überall im stillen Haine, / Auch in der Hütte selbst an jeder Wand / Die Schrift: Angelica, Medor gefunden, / Durch Züg und Knoten mancher Art verbunden.« Die vor allem mit ihren Beinen untrennbar ineinander verknoteten Liebenden formen bei Spranger ihre ineinander verschlungenen Initialen – ja, man könnte in ihrer Beinhaltung geradezu die Initialen A und M inkarniert sehen.

Medoro hat diese Inschrift seinem Bildgedächtnis jedenfalls schon längst einverleibt, denn er kann sie zeichnen, ohne den Blick aus den Augen seiner geliebten Muse herausziehen zu müssen. Überhaupt, dieser schmelzende Blick! Er scheint die körperliche Verschmelzung der beiden in seiner schmachtend-zerfließenden Hingabe zu substituieren. Im italienischen Text findet sich an dieser Stelle ein deutlicher Hinweis, worum es hier eigentlich geht: Ihre Namen seien »legati insieme […] in vari modi«. Jedem zeitgenössischen Leser (und auch jeder Leserin) dürfte hier die Anspielung auf Aretinos berühmte erotisch-pornografische Sonette über 16 verschiedene mögliche Stellungen beim Geschlechtsakt aufgefallen sein, die unter dem Titel I modi 1527 veröffentlicht wurden. Die Texte dieses italienischen Kamasutra des 16. Jahrhunderts entstanden als »Übersetzungen« von Marcantonio Raimondis pornografischen Stichen nach Zeichnungen von Giulio Romano aus dem Jahr 1524. (Abb. 4)

Christine Tauber