Auf offener StraßeIrpin, Kiew. Eine Fotografie von Lynsey Addario

»Was wir sehen, dafür haben wir, so sagt man, keine Worte.«

― Karl Schlögel


1.


»Follow me on Instagram« – In ihrem literarischen Tagebuch aus Kiew berichtet die ukrainische Schriftstellerin und Fotografin Yevgenia Belorusets unter dem Datum von Freitag, dem 4. März 2022 auch von einem Einkauf in einem Lebensmittelgeschäft: 


»Ich wollte schauen, ob der kleine Laden neben meinem Haus noch Brot hat. Schon seit dem dritten Kriegstag schaffe ich es nicht, Brot zu besorgen. Es ist meistens ausverkauft. – Der Laden war voll. Mit etwas Verwunderung entdeckte ich Vertreter des internationalen Militärs. Sie sprachen Englisch und brauchten Hilfe beim Übersetzen. Dann sah ich, dass es sich nicht um Soldaten handelte, sondern um unbewaffnete, aber gut geschützte Begleiter einer Fotografin, die auch im Laden einkaufte. Ich versuchte ihr zu helfen, ein Waschmittel auszuwählen. Die kleine Gruppe strahlte Begeisterung, Humor und Inspiration aus. Meine Laune verdunkelte sich plötzlich. Einer der Begleiter sagte stolz zu mir: ›Wissen Sie, mit wem Sie hier stehen? Das ist eine der besten Fotografinnen der Welt, die in Kriegszonen arbeiten.‹

Die Fotografin lachte und wehrte ab. ›Bitte‹ sagte sie, ›ich schäme mich.‹ Dann nannte sie ihren Namen. Ich konnte ihn mir nicht merken. Es ist mir in letzter Zeit schwergefallen, mich zu konzentrieren. Dann sagte sie: ›You can follow me on Instagram.‹  Die Gruppe kaufte sehr viel Waschmittel, fast alles, was im Laden war. Ich sagte zu ihnen: ›Gut, dass ihr bei uns seid‹, und verabschiedete mich. Aber schnell überkam mich eine Unruhe. Ich begriff, dass es kein gutes Zeichen ist, wenn sich hier eine bekannte Fotografin mit ihren Beschützern einrichtet.«1


Bei der Fotografin, der die Autorin zufällig begegnet war und deren Namen sie nicht richtig verstanden hatte, handelt es sich vielleicht um die US-amerikanische Fotojournalistin Lynsey Addario, deren künstlerische Arbeit ausführlich in dem Buch Mit offenen Augen gewürdigt werden soll (erscheint im Herbst 2024 im Schlaufen Verlag). Addario, ein »conflict photographer«, wie es gelegentlich heißt, war kurz nach Beginn des russischen Angriffskriegs im Auftrag der New York Times in die Ukraine gereist. Gemeinsam mit dem ihr von der Zeitung zur Seite gestellten ortskundigen Sicherheitsberater Steve und dem ukrainischen Fotografen-Kollegen und Filmemacher Andriy Dubchak hatte sie sich zunächst in Kiew und der näheren Umgebung nach dem Stand der Kriegsverwüstungen umgesehen. Den Moskauer Militärstrategen zufolge sollte die Hauptstadt im Anschluss an die Invasion vom 24. Februar binnen kürzester Frist überrollt und eingenommen werden. Doch der ukrainische Widerstand brachte den geplanten Blitzkrieg weit vor den Toren Kiews ins Stocken und ging für Wochen in einen Stellungskrieg über. Vor Ort der Hauptstadt und in den umliegenden Bezirken waren die durch Raketeneinschläge verursachten Zerstörungen bereits immens. Auch Tote und Verletzte sonderzahl waren von Beginn an zu verzeichnen. Die Bevölkerung war daher aufgefordert, sich im Fall von Angriffen in Sicherheit zu bringen. Einige Bewohner bewegten die Attacken zur Flucht, die übrigen verbrachten reichlich Zeit in Bunkern und anderen Schutzeinrichtungen. 

Lynsey Addario sah ihre Aufgabe vor allem darin, von jenen frontnahen Brennpunkten aus zu berichten, an denen die Schrecken und Folgen des Krieges noch unmittelbarer zu erfahren waren. Eine der Kiewer Nachbarstädte im Nordwesten, die von den Russen in den ersten Kriegstagen belagert und bald darauf auch besetzt worden waren, heißt Irpin. Neben Butscha und Hostomel war das damals rund 52.000 Einwohner zählende Irpin, am gleichnamigen Fluss gelegen, aufgrund seiner strategischen Lage im März 2022 eine der am heftigsten umkämpften Städte. Zu einem Symbol des Krieges sollte die vom ukrainischen Militär vorausschauend zerstörte Brücke werden, über die eine vierspurige Straße verlief.2  Die Demontage dieses wichtigen Abschnitts der Infrastruktur sollte den Vormarsch der russischen Truppen beeinträchtigen. Die wenige Tage später erfolgte Besetzung der Stadt und das sich anschließende Massaker, dem zwischen 200 und 300 Zivilisten zum Opfer fielen, konnte die Sprengung allerdings nicht verhindern. Ende März wurde Irpin schließlich zurückerobert.3


2.


Zwei Tage nach dem geschilderten Zusammentreffen der beiden Frauen, die nichts voneinander wussten, aber sich beide gleichermaßen dazu verpflichtet sahen, die Ereignisse um sie herum zu dokumentieren, hatte sich Lynsey Addario mit ihren Kollegen bereits früh am Sonntagmorgen auf den Weg nach Irpin gemacht. Es war der 6. März, ein Tag, der Geschichte, wenn nicht Epoche machen und den Namen Irpin auf die politische und historische Landkarte Europas setzen sollte. Aus Erzählungen und Nachrichten wusste man, dass die Bewohner der Vorstadt seit Tagen fortgesetzt in Richtung des rund 27 Kilometer entfernten Kiew evakuiert wurden. Mit Hab und Gut möchte man gern sagen, aber die behelfsmäßig aus Trümmern gefertigte Ersatzbrücke ließ sich nur mit dem Allernötigsten, mit dem, was man in Händen oder auf dem Rücken mit sich führen konnte, darunter nicht zuletzt Kleinkinder und Haustiere, überqueren. Beschwerlich war die Route insbesondere auch für alte und kranke Menschen. Hier und da standen Hilfskräfte oder vereinzelt auch Angehörige des Militärs, oft Freiwillige, bereit, um notdürftig Hilfe zu leisten. Der Fluchtweg führte auf der anderen Uferseite eine Straße entlang. Am Ziel warteten bereitgestellte Privat-Fahrzeuge und Busse auf die Flüchtenden. Da dieser nur wenige hundert Meter lange Korridor jedoch im Schussfeld des Gegners lag, bot er keinerlei Schutzzonen. 

Das Addario-Team traf gegen 9.30 Uhr vor Ort ein. Ungefähr zur selben Zeit eröffnete die russische Artillerie ihr Mörsergranaten-Feuer. Im Zehnminuten-Takt schlugen die Geschosse in die umliegenden Gärten, Häuser oder Straßendecken ein. Die ukrainische Armee operierte erst in einiger Entfernung und war somit nicht im Visier dieser Angriffe. Der Fluchtweg wurde demnach gezielt aus der sicheren Entfernung einer nahe gelegenen Stellung attackiert und – darüber waren sich die internationalen Berichterstatter rasch einig – das Leben der Zivilisten wurde bewusst aufs Spiel gesetzt. Noch am Morgen desselben Tages hatte Putin als Oberkommandierender der Armee in einer Rede betont, im Rahmen seiner sogenannten militärischen Spezialoperation würden Zivilisten nicht angegriffen. Die Ereignisse in Irpin (und anderswo im Land) straften seine Worte Lügen.

Lynsey Addario und ihre Begleiter hatten sich, deutlich als Presse-Vertreter gekennzeichnet und angetan mit Helmen und Sicherheitswesten, bis zu jener Kreuzung vorgewagt, wo sich die aus Richtung der Brücke kommende und weiter nach Kiew führende Landstraße P 30 mit zwei kleineren Straßen schneidet. Von hier aus hatten die Journalisten einen guten Blick in Richtung des ankommenden Flüchtlingsstroms. Als bald nach ihrem Eintreffen eine erste Granate wenige Meter von dem kleinen Trupp entfernt die Kreuzung traf, hatte man gerade Schutz hinter einer Betonmauer gesucht. Die Explosion hatte die Luft mit Rauch und Staub gefüllt. Kurz nach dem Einschlag wagte sich als erster der Sicherheitsmann Steve auf die Straße, gefolgt von Andriy Dubchak, der mit laufender Videokamera nach draußen trat. Addario hatte kurz das Gefühl von einem Granatspliltter getroffen worden zu sein, folgte dann aber ihren beiden Kollegen. Nachdem sich die Rauchwolke etwas gelichtet hatte, sahen sie gleich um die Ecke, zwanzig, dreißig Meter entfernt, am Boden, direkt am Straßenrand eine kleine Gruppe von Menschen liegen. Sie lagen wie schlafend dort, angetan mit ihren Winterjacken, neben sich die Rollkoffer und ein Hundekorb. Der Hund, so heißt es, bellte fortwährend. Es waren vier Personen, die durch die Explosion nach dem Einschlag der Granate von deren Splittern getroffen und auf einen Schlag hingerafft worden waren. Umgehend waren Hilfskräfte zugegen, die nach den Toten, einer Mutter, ihren beiden Kindern und einem Freund, sehen wollten. Die von Dubchak gedrehte Videosequenz hält aus wenigen Metern Entfernung das in grauem Dunst wie unwirklich erscheinende Szenario fest. Kaum, dass sich die Staubwolken verzogen hatten und die Sicht gelichtet war, machten sowohl Dubchak als auch Addario einige Fotos von den Opfern der hinterhältigen Attacke. Dubchak fotografierte die Gruppe aus der Richtung, aus der er von hinten hinzutrat, demnach über den Rücken, während Addario sie zusätzlich auch von der Gegenseite fotografierte. Dadurch sieht sie die Opfer von vorn, von Angesicht zu Angesicht.


3.


Addario hat in zahlreichen Interviews betont, dass sie im Moment der Aufnahmen einerseits ob des Entsetzens und der intimen Nähe gezögert und andererseits im gleichen Moment ihrem beruflichen Selbstverständnis nach gewusst hat, dass sie das grauenerregende Resultat des Ereignisses, dem sie als Augenzeugin, wenn auch verdeckt hinter einer Mauer, unmittelbar beigewohnt hat, im Bild aufzuzeichnen hatte. Innerlich geschützt sah sie sich nicht zuletzt durch den Umstand, dass ihr Andere, und zwar die Redaktion der New York Times, die Verantwortung für die Anwendung der Aufnahme, sprich eine Veröffentlichung abnehmen würde. 

Eilig kehrte sie im Anschluss an die nur wenige Minuten dauernde Dokumentation aus diesem Kreis der Hölle mit den Kollegen zu ihrem Gefährt zurück und besah sich die Ergebnisse ihrer Aktion auf dem Bildschirm. War die Belichtung, war die Bildschärfe richtig eingestellt, kurzum, waren die Bilder „etwas geworden“?  Die geeigneten Aufnahmen wurden unter Angabe von Motiv, Ort und Zeit umgehend nach New York übermittelt. Jetzt erst war Zeit darüber nachzudenken, dass sie und ihre Kollegen nicht nur ex post dokumentierende FotografInnen, sondern Augenzeugen eines Kriegsverbrechens waren, das später neben unzähligen anderen zu ahnden sein würde.4

Die New Yorker Kollegen haben sich die von Addario übersandten Aufnahmen vermutlich umgehend besehen, auch kritisch und presserechtlich hinsichtlich der Eignung im Blick auf eine Publikation befragt, aber wohl nicht lange gezögert, eine der Fotografien als Titelbild der Ausgabe vom nächsten Morgen zu wählen. Im Onlineportal der Zeitung wurde das Bild noch am selben Tag freigeschaltet und war somit als Nachricht in der Welt. Zur Sensation jedoch wurde das Foto wohl erst durch die Druckausgabe. Über fünf Spalten hinweg gedruckt, eröffnete Addarios Foto das Blatt vom 7. März auf der Titelseite. Eine größere Öffentlichkeit und folglich Beachtung kann man im Bereich der gedruckten Bilder kaum erzielen. Es brauchte nicht einmal 24 Stunden, um Addarios Aufnahme von der Mordtat in Irpin weltweit bekannt zu machen. Die laut Rechteinhaber gültige Bildunterschrift des Fotos lautet: »Civilians Hit By Russian Shelling While Fleeing Irpin«. Das Datum der Entstehung scheint merkwürdigerweise nicht zur Beischrift zu zählen. Gibt man die Bildunterzeile in eine Suchmaschine im Internet ein, begegnet im Fall von Google als erstes das Video von Andriy Dubchak, das, versehen mit dem Hinweis »Warning: Viewers may find the content of this video disturbing«, dem Betrachter ob seines detaillierten, nicht länger als 60 Sekunden dauernden Berichts, angesichts der Todesfalle, in welche die Flüchtenden geraten sind, dem Betrachter den Atem verschlägt, wenn nicht gleich den Verstand raubt. Zu Beginn fragt jemand, wie denn der Tag gestern war, und erhält zur Antwort: »Ein schlechter Tag,  es wurden Kinder, Leute getötet und Zivilisten verschleppt.« Sofort darauf schlägt zischend und feuerspeiend in der unmittelbaren Nähe eine Granate ein, die Kamerabilder wackeln und jemand aus dem Addario-Team sagt »Fuck!«. Lynsey Addario wiederholt, die Fotokamera im Anschlag, mehrfach ein »Shit!«. Dann heißt es von der Straße aus »Come on!«, doch gleich anschließend: »Stay there!«. Addario antwortet mit einem »Alright!«. Es folgt ein scharfes, von Dubchak gesprochenes »No, no, no, no!«. Zuletzt ertönt von einem zur Unglücksstelle herbeigeeilten Mann der durch Mark und Bein gehende Ruf nach einem Arzt: »Come on Medic! Medic! Medic!«. Dubchaks Kamera zoomt gegen Ende der kurzen Sequenz in Richtung der vier oder fünf herbeigeeilten Helfer, welche die drei Toten und den tödlich getroffenen jungen Mann umringen. Der größte Teil der Szene wird von laut jaulendem Hundegebell grundiert.


Tetiana Perebyinis, ihre beiden Kinder, Mykyta und Alisa, und Anatoly Berezhnyi, sind dem Anschlag zum Opfer gefallen. Die Fotografie von Lynsey Addario setzt ihnen ein Denkmal.

Michael Diers
  1. Yevgenia Belorusets, Anfang des Krieges. Tagebücher aus Kyjiw, Berlin 2022, S. 43f.

  2. Inzwischen, 2024, wieder aufgebaut.

  3. Siehe dazu ausführlich die Wikipedia-Artikel »Irpin« und »Schlacht um Kiew«.

  4. Vgl. die Nachricht vom 2. April 2024, dass der Haager Gerichtshof inzwischen über 120.000 Belege gesammelt hat.