Rinâûçêr‘-hôseÜber ein Bleistiftwesen

Das Nashorn ist im Wald ganz stumm. / Die Nase in der Höh und tut auch gar so weh. / Die immer so weh tat und tut sonst gar nicht weh. / mehr als das Tier so groß ist sie auch / das Nashorn ist ein großes Tier. / Das Nashorn ist im Wald. / so zackig ist das Nashorn / und doch so schön.

― Ernst Herbeck

Bildlegenden machen mich eigentlich denkfaul. Ein flüchtiger Blick auf das bucklige Wesen mit seinem geweiteten Auge, den aufgerichteten Ohren und dem unübersehbaren Genital – und meine Augen gleiten unwillkürlich weiter nach rechts, zu den blassen Buchstaben, deren zittrige Linienführung den Stil der Zeichnung zu imitieren scheint. Aber diese Legende macht es mir nicht leicht. Rinâûçêr‘-hôse ist nicht gleich Rhinozeros. Selbst beim lauten Vorlesen bleibt ein Irritationsmoment: Statt ›Rinoseross‹ lese ich ›Rinosäros‹ und ziehe dabei die zweite und letzte Silbe absichtlich in die Länge, die stummen Zeichen zum Klingen bringend, die sich in das geschriebene Wort eingeschlichen haben. Als idiosynkratische Buchstabenfolge ohne eindeutigen Referenten zwingt mich der Schriftzug, das Bild genauer zu befragen.


Ich schaue also wieder hin, und stelle fest: Das Tier strahlt Vitalität, äußerste Anspannung, vielleicht sogar Kampfbereitschaft aus und erscheint zugleich seltsam ausgewalzt, in die Zweidimensionalität gepresst wie eine Blume im Herbarium. Während an den Beinen und am Bauch Ansätze einer Hell-Dunkel-Modellierung erkennbar sind und die geschwungenen Linien auf der Rückenpartie in Verbindung mit dem variationsreichen Binnenlineament Körperlichkeit und Textur andeuten, wirken Ohren, Horn und Schwanz aufgrund der gleichförmigen Linienführung flach und eindimensional. Gleiches gilt für die blasse – und legendenlose – Vogelfigur, die sich wie ein verzerrter Schatten unterhalb des Rinâûçêr‘-hôse erstreckt. Der Kontrast zwischen dunklem Nashornkörper und Augenweiß wird hier umgekehrt: Nur das tiefschwarze, mandelförmige Auge sticht aus der sorgfältig schraffierten, hellen Fläche hervor. Es ist schwer zu sagen, welche der beiden Figuren näher an mich heranrückt, denn Nashornhuf und Vogelkamm überlappen einander leicht. Auch die silhouettenhafte Baumreihe am oberen Bildrand und die nur angedeuteten Grasbüschel unter den Vogelläufen bieten nicht genügend Anhaltspunkte, um das Rinâûçêr‘-hôse räumlich zu verorten.


Einem echten Dickhäuter ähnelt das Wesen zudem noch weit weniger als Dürers so einflussreiches wie realitätsfernes Rhinocerus, mit dem es die Profilansicht, die Platzierung der Legende und die detaillierte Musterung teilt. Sein Horn ragt nicht vom unteren Ende der Schnauze über Maul und Nüstern hinaus, sondern, wie bei einem Einhorn, von der Stirn empor, zwischen den aufgerichteten Ohren, deren Wellenform es aufgreift. Die Form der Ohrmuscheln erinnert eher an die eines Elefanten als an die kleinen Lauscher eines Breitmaulnashorns. Der Rumpf windet sich in die falsche Richtung, das Auge ist zu groß und die mit Stacheln besetzten Beine, die unten in beide Richtungen stabilisiert werden, wirken übermäßig massiv. Ein früherer Betrachter hat das Wesen einmal als Kreuzung zwischen Languste und Stachelschwein beschrieben.1 Mich erinnert es mit seinem langen, schuppigen Schwanz vage an ein Gürteltier.

Die verfremdende Darstellung der Tierzeichnung und ihrer Legende lässt auch kulturelle Codierungen ins Leere laufen. Und an solchen mangelt es dem Nashorn nicht, wie die Historikerin Kelly Enright anhand einer Anekdote zeigt: Ursprünglich sollte in der animierten Version von Rudyard Kiplings The Jungle Book (1967) ein sprechendes Panzernashorn namens »Rocky the Rhino« auftreten. Doch Rocky schaffte es nie auf die Kinoleinwand. Übrig blieben nur die Stimmaufnahmen des Komikers Frank Fontaine, Storybook-Zeichnungen2 und ein Modellbogen mit »ruff suggestions« des Trickfilmzeichners Milt Kahl, auf dem Rocky mit wechselnden Gesichtsausdrücken und aus verschiedenen Perspektiven zu sehen ist, meist dümmlich auf sein eigenes Horn schielend. Enright führt diesen Ausschluss des Nashorns aus dem Kreis der sprechenden Dschungeltiere auf die jahrhundertealte Wahrnehmung des Rhinozeros als Symbol für exotische Fremdartigkeit, urwüchsige Wildheit und ungezügelte Gewalt zurück. Jeder Versuch, das Tier zu vermenschlichen, habe daher nur grotesk erscheinen können: »Even Walt Disney – a man who seemed to be able to imagine words into the mouths of any creature – could not come to terms with a talking rhinoceros«3.

Dementsprechend hat Adorno das Nashorn einmal – fast tautologisch – als »das stumme Tier« bezeichnet.4 In der Ästhetischen Theorie dient das Rhinozeros als Metapher für die nichtdiskursive Sprache der Kunst, die ihrerseits die stumme Ausdruckskraft der Natur nachahmt. So wie das Tier wortlos seine eigene »Selbstheit«, ein »Da bin ich« oder »Das bin ich« verkünde, so seien Kunstwerke »sprechend im höchsten Maß und aller mitteilenden Sprache inkommensurabel«.5 Das Rinâûçêr‘-hôse hingegen unterscheidet sich offensichtlich zu stark von der Idee eines Nashorns, um diesen stummen Sprechakt zu vollbringen. Anstelle einer irgendwie gearteten ›Selbstheit‹ sehe ich ein Bild, das reichlich Raum für Interpretationen lässt.


Tatsächlich war der Versuch, diesem und anderen Bildern desselben Zeichners ihre Leerstellen auszutreiben, zunächst nicht der einer kunsthistorischen Interpretation. Es stammt aus einer psychiatrischen Klinik in der Nähe von Lille im Norden Frankreichs und ist eine der frühesten erhaltenen Zeichnungen von Gaston Dufour (1920–1966), der dort von seinem 20. Lebensjahr bis zu seinem Tod interniert war. Nach einiger Zeit bemerkte das Klinikpersonal, dass dieser als teilnahmslos und schweigsam geltende Patient eigenartige Figuren, hauptsächlich Tiere, auf Zeitungsränder, Zettel oder Notizbuchseiten zeichnete und diese in seiner Kleidung aufbewahrte (was wahrscheinlich die sichtbare Faltkante erklärt).6 Im Laufe der Zeit wurden Dufours Zeichnungen immer größer und bunter, denn als sein Arzt Paul Bernard, ein Mitbegründer der Psychiatriereformbewegung der ›institutionellen Psychotherapie‹, darauf aufmerksam wurde, begann er, ihn mit Papier, Buntstiften und Aquarellfarben zu versorgen. Eine Auswahl seiner Arbeiten wurde 1950 als Leihgabe an die Pariser Klinik Sainte-Anne geschickt, wo sie im Rahmen des ersten Weltkongresses für Psychiatrie in einer Ausstellung für ›psychopathologische Kunst‹ gezeigt wurden.7


Später veröffentlichten Bernard und der belgische Psychiater und Psychologe Jean Bobon eine detaillierte Fallstudie, in der sie versuchten, die psychologische Bedeutung des Nashornmotivs zu ergründen. Die Grundlage ihrer Analyse bildeten, neben den Zeichnungen selbst, psychometrische Tests und Befragungen des Patienten unter dem Einfluss verschiedener psychoaktiver Substanzen (Amobarbital, Methamphetamin, Meskalin und LSD). Doch zum einen lösten diese Drogenversuche, mit denen Dufours beharrliches Schweigen durchbrochen werden sollte, schwerwiegende Angstzustände aus – worüber die Autoren seltsam beiläufig berichten, fast so, als hätten sie diese Reaktion nicht selbst hervorgerufen.8 Zum anderen blieb die besondere Machart der Zeichnungen trotz ihrer Kategorisierung als ›Neomorphismen‹ – innovative Formen – erstaunlich unbeachtet: Die Autoren vermuteten den Ursprung des Nashornmotivs in Kindheitserinnerungen an einen Besuch im Pariser Zoo von Vincennes oder an einen Dschungelfilm und interpretierten es als ›Machtbild‹ (»image de puissance«) und ›Bild eines Machtlosen‹ (»image d’impuissant«), auf das Dufour seine eigene Unzulänglichkeit projiziere.9 Statt sie als eigenständige Bildwerke zu betrachten, reduzierten sie Dufours Zeichnungen auf die üblichen Konnotationen von Macht, Potenz und Gewalt.


Der französische Künstler und Sammler Jean Dubuffet hingegen, der ab 1949 zahlreiche Arbeiten Dufours in seine Sammlung ›roher‹ Kunst (art brut) aufnahm, sie damit der Sphäre der ›psychopathologischen Kunst‹ enthob und ästhetisch aufwertete, war sich dessen einzigartigem Stil wohl bewusst. Zugleich führte er das Narrativ des schweigsamen Nashornzeichners weiter, wenn er von einem erfolglosen Versuch berichtete, bei einem Besuch in Lille mit dem Anstaltskünstler ins Gespräch zu kommen.10 »Gaston«, wie auch Dubuffet ihn aus Rücksicht auf seine Persönlichkeitsrechte nannte, blieb bei dieser Begegnung stumm, was dem Besucher nicht unwillkommen war. Denn wer Kunst als geschlossenen Kreislauf (»[c]ircuit fermé«) oder ›autistisches‹ Selbstgespräch verstand, der konnte enigmatisches Schweigen nur begrüßen. Dubuffet zufolge kümmerte sich Dufour nicht darum, ob seine Zeichnungen realitätsgetreu und seine Schriftzeichen verständlich waren; ihr Sinn und Zweck bestehe einzig darin, die Denkbewegungen ihres Verfassers gleichsam stenogrammatisch einzufangen.11


Folgt man Dubuffets Ausführungen, dann ist die Position einer Betrachterin und Leserin in Dufours Zeichnungen schlicht nicht vorgesehen. Aber selbst wenn das zutrifft, selbst wenn es Bilder gibt, die sich völlig selbst genügen, ohne auf jemanden angewiesen zu sein, der sie betrachtet, liegt dieses Bild dennoch in diesem Moment vor mir, faszinierend und zugleich beklemmend. Vielleicht hängt die Wirkung, die das Rinâûçêr‘-hôse auf mich ausübt, mit seiner expressiven Mimik und Körpersprache zusammen – die mir bei genauerem Hinsehen immer weniger aggressiv erscheint. Denn die mäandernden Linien können statt als Hautfalten eines Dickhäuters auch als Äderungen interpretiert werden, und damit als Zeichen von Dünnhäutigkeit und Empfindsamkeit. Von einem Zähnefletschen kann, genau betrachtet, keine Rede sein, denn das vermeintliche Gebiss besteht nur aus dünnen Linien. Das Genital ist nicht erigiert, sondern hängt schlaff zwischen den Beinen herunter, ebenso wie der ängstlich gesenkte Schwanz, der eng am Hinterbein anliegt. Die Ohren wiederum sind in beide Richtungen ausgestreckt und aufmerksam gespitzt, als lauere irgendwo eine große Gefahr, und auch Haare und Wimpern wirken wie elektrisiert vor Erregung.


Besonders aber fällt mir das große, lidlose Auge auf, das seitlich am Kopf sitzt. Während echte Nashörner notorisch kurzsichtig sind, scheint das Rinâûçêr‘-hôse mit einem Rundumblick ausgestattet zu sein, der es ihm erlaubt, seine gesamte Flanke – und somit auch mich als Betrachterin – im Blick zu behalten, bereit, jederzeit vor Gefahr zu fliehen. Zugleich können sich lidlose Augen niemals schließen: Das Rinâûçêr‘-hôse wirkt auf fast grausame Weise immer wach, angespannt und aufmerksam bis in die letzte Zelle. Keineswegs habe ich es mit einem »rhinocéros féroce«, mit einer wilden Bestie zu tun, wie es vor wenigen Jahren der Titel einer Ausstellung unterstellte, in der Dufours Nashornzeichnungen ausgestopften Exemplaren gegenübergestellt wurden.12 Ich sehe jetzt, dass das dornenbewehrte Wesen nicht in einer Angriffsposition verharrt, sondern in defensiver Alarmbereitschaft – vielleicht sogar in Schreckstarre, wie ein Hirsch im Scheinwerferlicht. Das erstarrte Tier hat Angst vor mir, wappnet sich gegen meine Übergriffigkeit.


Es stimmt, dass das Bild nie für meine Augen bestimmt war. Widerspenstig ist es aber gerade nicht, indem es sich meinem Blick durch gezielte Verfremdung verschließt, sondern indem es dieses Blickregime erst sichtbar macht und mir zurückspiegelt. Ähnlich wie die Bildlegende den Akt der Benennung reflektiert, dessen Gewaltcharakter in der Diagnose ›schwachsinniger Paraphreniker‹ (»paraphrène débile«) im Titel der Fallstudie überdeutlich wird, so stellt das Bild den Zustand des (An-)Gesehenwerdens aus, in seiner ganzen Verletzlichkeit. Aus seiner Erstarrung heraus scheint das Rinâûçêr‘-hôse meinen forschenden Blick zu erwidern und mir mit seiner ganzen Körpersprache sein Unbehagen daran zu bedeuten. A rhino in the headlights … . Das vermeintlich stumme Nashornbild ist »sprechend im höchsten Maß«.

Chiara Sartor
  1. Dubuffet, Jean: »Gaston le zoologue« [1965], in: ders.: Prospectus et tous écrits suivants, Bd. 1, hg. von Hubert Damisch, Paris, Gallimard, 1967, 331.

  2. The Disney Archives: »The Jungle Book – Deleted Scene – The Lost Character: Rocky the Rhino«, YouTube, 10.03.2023, https://www.youtube.com/watch?v=7b-KKEp5lDQ (letzter Aufruf 03.09.2023).

  3. Enright, Kelly: Rhinoceros, London, Reaktion Books, 2008, 101.

  4. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M., Suhrkamp, 1970, 171–172.

  5. Adorno, op. cit., 171.

  6. Cf. Bernard, Paul / Bobon, Jean: »Le ›Rînhaûzhâirhhâûsês‹ néomorphisme compensatoire chez un paraphrène débile«, in: Acta Neurologica et Psychiatrica Belgica 64/1 (1964), 67.

  7. Cf. Volmat, Robert: L’art psychopathologique, Paris, Presses Universitaires de France, 1956, 48–50.

  8. Cf. Bernard und Bobon, op. cit., 83.

  9. Cf. Bernard und Bobon, op. cit., 79–97. Für den von Dufour erwähnten Dschungelfilm kommt möglicherweise Tarzan and his Mate (1934) infrage, der zweite Film aus der berühmten Tarzan-Reihe. Ein von Johnny Weissmuller gespielter Tarzan reitet und ersticht darin ein wild gewordenes Nashorn, um seine Jane zu retten.

  10. Dubuffet, op. cit., 328.

  11. Cf. Dubuffet, op. cit., 322. Im Wortlaut klingen Dubuffets programmatische Ausführungen am Beispiel Dufours wie folgt: »Qui veut donner figure à sa pensée, en obtenir une image projetée, un sténogramme instantané, éprouvera bientôt que la monnaie courante des symboles usuellement adoptés n’y convient pas du tout. Petits paquets préfabriqués pour servir à tous, ces signes conventionnels ne permettent de transcriptions que grossières et dénaturées, dépersonnalisées. L’autiste aspire à des transcriptions dont il se soucie peu qu’elles soient inintelligibles à d’autres qu’à lui-même pourvu qu’elle restituent les mouvements de sa pensée en conservant bien leur allure propre – à quoi le ›pidgin‹ usuel n’est pas du tout apte. Il entreprend de se fabriquer ses paquets lui-même à son exclusive commodité. N’oublions pas que l’autiste est enclin à tenir ce que font les autres pour impropre à son usage ; il déteste, où que ce soit, emprunter ; il aime en tout domaine à créer, à innover [Wer seinen Gedanken eine Gestalt geben will, ein Abbild, ein momenthaftes Stenogramm, wird bald feststellen, dass sich die gängigen Symbole dafür überhaupt nicht eignen. Als kleine, vorgefertigte Pakete, die jedem dienen sollen, ermöglichen diese konventionellen Zeichen nur grobe und verfälschte, entpersönlichte Transkriptionen. Der Autist strebt nach Transkriptionen, bei denen es ihm egal ist, ob sie für Andere unverständlich sind, solange sie die Bewegungen seines Denkens in ihrer Eigenart wiedergeben, wozu das übliche ›Pidgin‹ überhaupt nicht imstande ist. Er macht es sich zur Aufgabe, sich seine Pakete zur eigenen Annehmlichkeit selbst herzustellen. Vergessen wir nicht, dass der Autist dazu neigt, das, was andere tun, als ungeeignet für seine Zwecke zu betrachten; er hasst es, wo auch immer, zu borgen; er liebt es, auf allen Gebieten zu kreieren, zu innovieren. Übers. d. Verf.]« (Dubuffet, op. cit., 322–323).

  12. Cf. Kat. Ausst. Rhinocéros féroce?, hg. von Lucienne Peiry und Michel Sartori, Lausanne, Musée cantonal de zoologie, 2019. Die Herausgeberin Lucienne Peiry folgt der Lesart der Psychiater, indem sie behauptet, Dufour habe im Nashorn vor allem eine unbesiegbare, allmächtige, bestialische und wilde Kreatur gesehen (cf. Peiry, Lucienne: »Le sacre du rhinocéros«, in: Kat. Ausst. Rhinocéros féroce?, hg. von Lucienne Peiry und Michel Sartori, Lausanne, Musée cantonal de zoologie, 2019, 23–24.