Wie ein FragezeichenÜber das Croce-Porträt von Arnaldo Polacco

Intellektuelle lassen sich am liebsten vor ihrer Bücherwand, manchmal auch am Schreibtisch porträtieren. Sie wollen sagen: Ich habe gelesen. Auch: Ich werde gelesen werden. Eher selten: Ich lese. Zu diesem selten gewordenen Typ der Inszenierung gehört eine Fotografie von Arnaldo Polacco (1876–1960). Sie porträtiert den Philosophen Benedetto Croce (1866–1952). Croce liest, aber in einem seltsamen Widerspruch aus Entspannung und Ernst, Ergebung und Ekel.


Du stehst da wie ein Fragezeichen, heißt es gelegentlich. Der gekrümmte Croce sitzt da wie ein Fragezeichen. Er befragt das Buch, das es erkennbar nicht leicht mit ihm hat. Seine Haltung unterscheidet sich damit deutlich von denen der Leserinnen und Leser, die die Ausstellung Lektüre. Bilder vom Lesen – Vom Lesen der Bilder (Franz Marc Museum, Kochel am See, 2018) zusammenführt. Croce sitzt nicht am Schreibtisch, er hat kein Blatt neben sich, um Exzerpte anzulegen. Er hat sich in einen Stuhl zurückgelehnt, dennoch ist er keineswegs wohlig entspannt wie etwa die Ruhende, lesende Frau (1897) von Max Liebermann oder Erich Heckels Lesende Frau (1913). Er ist auch kein auf Information erpichter Großstadtmensch wie Lovis Corinths Der Zeitungsleser (1892), der, obschon gefesselt von den vermischten Meldungen auf der letzten Seite, Geistesgegenwart genug besitzt, den Espresso in seinem Tässchen umzurühren. Gabriele Münters Zeitung lesender Mann (1926), der es sich auf einem breiten Sessel mit übergeschlagenen Beinen bequem gemacht hat, wirkt, mit Croce verglichen, nachgerade frivol.


Allerdings ist Croce keiner derjenigen, die sich an ihre Lektüre verlieren und sous l’invocation de Saint Jérôme über eine heilige Schrift gebeugt sind wie, ein Beispiel unter sehr vielen, der Lesende Mann (1922) von Karl Schmidt-Rottluff. Edouard Vuillards Madame Vuillard lisant à la lumière d’une lampe (ca. 1916) oder La Lecture (1953) und Jacqueline lisant (1958) von Pablo Picasso bezeugen ein zu großes Vertrauen auf das Buch, eine zu große Hingabe an es. Croce gibt sich nicht hin, er prüft. Im Unterschied zu Erich Schönfelds Meine Mutter (1924), die beim Lesen mit dem Finger den Zeilen folgt, ist er ein professioneller Leser. Gerade seine Handhaltung verdeutlicht das. Während die Rechte das Buch stützt, scheint der Daumen der Linken die Seite zu fixieren, vielleicht auch umzublättern. Der Zeigefinger der Linken hält und gliedert zugleich. Ist er in den Buchblock geschoben, um eine frühere, vielleicht wichtige Stelle festzuhalten, die so jederzeit wieder aufgeschlagen werden könnte? Selbst wenn das der Fall wäre, gehörte das Bild nicht in die interessante Ikonographie der unterbrochenen Lektüre, die Ulrich Johannes Schneider (Der Finger im Buch, Bern/Wien 2020) untersucht hat. Die Lektüre ist nicht unterbrochen, aber derart distanziert, derart analytisch, dass sie es sich offenhält, zu einer Vergleichs-, vielleicht auch heiklen Stelle zurückzuspringen. Nicht der Band, der Leser selbst ist hier der pageturner.


Die Spannung zwischen dem fest- und weggehaltenen Buch einerseits und seinem Leser andererseits ist enorm. Da durch den eingeschobenen Zeigefinger eine Seite minimal einsehbar wird, gibt sich das geprüfte Werk als ein illustriertes zu erkennen. Die Vorstellung drängt sich auf, es gehörte zu den vielen kunstgeschichtlichen oder kunsttheoretischen Elaboraten, die Croce in seiner Estetica (1902) im Halb- und Viertelseitenrhythmus abschmettert: »Kritik des Naturalismus«, »Kritik der ›Ideen‹ in der Kunst«, »Kritik der Thesen in der Kunst«, »Kritik des ›Typischen‹ in der Kunst«, und so weiter, bis hin zur »Kritik des Satzes: ›der Stil ist der Mensch‹«, die mit der Bemerkung schließt: »O, wieviel vorsichtiger waret ihr Weiblein von Verona, da ihr euren Glauben, daß Dante wirklich in die Hölle hinabgestiegen, wenigstens auf sein rauchgebräuntes Gesicht stütztet! Eure Vermutung war eine historische.« (Übersetzung von Karl Federn)


Der historische Gebrauch der Kunst war auch ein Anliegen des Porträtisten Polacco. Der Gymnasiallehrer für alte Sprachen sowie Kunstgeschichte in Triest leitete das dortige Fotografische Institut. Er hielt Vorträge vor der Volksuniversität und verwendete dabei Fotografien als didaktisches Mittel. Sie sollten mit speziellen Objektiven in ihren Details studiert werden. Zu diesem Behuf ließ er 1931 Zylinderlinsen patentieren, die den physiologischen Eigenheiten des Auges angepasst sind. Auch für die Stereoskopie interessierte er sich. Wir dürfen von einem solchen Künstler, der nicht – das wäre Croce entgegen gewesen – positivistisch, aber eben, in einem herben Sinn, historisch dachte, eher ein Dokument als ein künstlerisches Porträt erwarten. Und doch fügt sich die Inszenierung wenn auch widerspenstig in jene malerische Motivik, die Michael Fried als »absorption« (Absorption and Theatricality, Chicago/London 1980), als die Versunkenheit der Diderotschen Aufklärung gezeichnet hat, die vom Rokoko abrückte. Fried stellt die Gemälde, die er untersucht, so den aus der Bibel lesenden Vater von Greuze (1755) oder Chardins Un philosophe occupé de sa lecture (1753), in einen Gegensatz zur Theatralität einer Bildwelt, die die Betrachter direkt adressiert und ihre Blicke auf sich zieht. Aber nicht erst in unserer Kultur der allgegenwärtigen Selbstpräsentation kann eine Abwendung nur eine negative Zuwendung sein. Wir haben einen exemplarischen Fall vor uns.


Croce ist, das dürfen wir voraussetzen, nicht bei einem Handgemenge mit einem zweitklassigen Autor ertappt worden, er hat sich in ihm inszeniert. Er gibt sich, bei aller absorption, vor nacktem Bühnenhintergrund theatralisch. Und ist er es nicht, so ist es Polacco. Die Reflexion erster Ordnung – Leser und Buch – wird also von einer Reflexion zweiter Ordnung – Fotografie und Betrachter – nicht nur erweitert, sondern aufgehoben. Denn aus ihr geht unversehens eine Reflexion dritter Ordnung hervor: Der Betrachtete wird Betrachter. Der Leser Croce taucht nur ab, um in einer Selbstpräsentation vor den Betrachtern aufzutauchen. Der kritische Leser, der sich abwendet, wendet sich uns zu, um uns seine Abwendung zu demonstrieren. So gilt seine Kritik des Buches auch uns allzu kritikwürdigen Betrachtern, als ob er sagte: »So wenig ich von diesem Buch halte, halte ich von euch!«

Stefan Ripplinger