Warburgs Falten
Auf Tafel 79 des Mnemosyneatlasses von Aby Warburg (Abb. 1) sieht man auf der oberen linken Seite die große Photographie eines Bildes aus den Stanzen des Vatikans, eine Reproduktion von Raffaels Messe von Bolsena (Abb. 2). Da fällt etwas auf: Diese Tafel hat etwas mit Falten zu tun. Falten sieht man dort, auf Raffaels Bild zentral, und Falten ziehen sich über Tafel 79, vor allem dann durch das Zeitungspapier, also die Blätter aus dem Hamburger Fremdenblatt (Abb. 4 u. 5). Das sind zwei Blätter, die zusammen einen Block auf der gegenüberliegenden, rechten Seite bilden. Sie berichten unter anderem davon, womit sich die Tafel beschäftigt; der Gründung des modernen Vatikanstaates und damit der Restitution einer alten Idee.
Die Messe von Bolsena ist nicht nur das Bild eines Blutwunders, sondern auch einer Gründungsszene. Das Wunder bezeugte im 13. Jahrhundert das Dogma der Transsubstantiation. Historisch wird es aber auch mit einer Reformbewegung der katholischen Kirche verknüpft. Der Rechtshistoriker Harold Berman spricht sogar von einer papalen Revolution: Die Bewegung rationalisiert unter Rückgriff auf das römische Recht die Kirche und in diesem Rahmen werden entscheidende Grundlagen dafür gelegt, die Kirche als juristische Person, Körperschaft und Staat zu verstehen. Diese Idee wird 1929 durch den Abschluss der Lateranverträge restituiert.
Auf der Photographie (Abb. 2) sieht man eine Wand, die von einem Fenster durchbrochen wird, und einen Teil des Deckengewölbes. Diese Szene oberhalb des Fensters zeigt eine Tafelgemeinschaft, eine Kommunion. Man blickt dort in der Mitte frontal auf die von einem weißen Tuch bedeckte Seite eines Altars (Abb. 3). Rechts davon kniet Julius II., der Auftraggeber Raffaels, an einem gigantischen Stuhl, der selbst wie eine Tafel oder ein Altar anmutet. Links vom Altar steht ein Priester, der in seiner linken Hand eine Hostie hält, in seiner rechten ein gefaltetes Textil, das sogenannte Corporale. Am Rand sieht man noch weitere Figuren, Zeugen und Messdiener.
Diese Bildpassage, das Corporale, bildet einen Fluchtpunkt im Bild: Dort, an dem Corporale, zeigt sich das Wunder von Bolsena. Im Kern oder Herzstück der Komposition wird Raffaels Bild zu einem gefalteten textilen Bildgrund. Blicke und Gesten lenken die Aufmerksamkeit des Betrachters zu diesem kleinen Stück Textil, das auch für die Geschichte zentral ist. Während der Messe von Bolsena, so heißt es, bricht der Prager Priester die Hostie, die daraufhin blutet. Die sichtbaren Tropfen auf dem Corporale überzeugten die Zweifler von der Wandlung der Hostie in den Corpus Christi. Das Textil bezeugt also ein Wunder und damit noch einmal das Dogma der Transsubstantiation. Es ist ein Beweisstück – und im doppelten Sinne ein Bild. Der Leib Christi kommt durch das Corporale zur Erscheinung, er erhält dort einen neuen Bildgrund. Das Corporale verkörpert dem Dogma nach etwas vom Körper Christi. Es ist vestigium (Spur) und imago. So wird das Corporale, das Raffael malt, heute noch im Dom von Orvieto als Reliquie aufbewahrt. Das Corporale bildet insoweit sogar ein Bild im Bild, wie wiederum Raffaels Fresko für Tafel 79 ein Bild im Bild ist. Und dieses Corporale ist gefaltet.
Warburg ist 1929 mit Bing in Rom und wird Zeuge einer römischen Staatengründung. Er beobachtet das Protokoll der römischen Diplomatie und besorgt sich Bilder davon. Diplomatie leitet ihren Namen von einer juridischen Kulturtechnik ab, der Diplomatik. Den Namen hat sie angeblich von Jean Mabillon, der das Wort aus dem Griechischen entwickelt haben soll; es bezeichnet eine Verdoppelung oder Doppelung. Das ist eine Technik der Beurkundung, eine Technik der Authentifizierung. Diplomatik ist zudem eine Technik der Verkörperung, weil es in dieser Technik um das Material der Schreib- oder Bildgründe und die Routinen dabei geht, in denen zwar nicht die Echtheit von Blutstropfen, aber beispielsweise diejenige von Tinte bezeugt werden soll. Diplomatik ist eine Kunst der verdoppelten Spuren – auf der Ebene der Schriftstücke. In der Literatur wird der griechische Begriff, den Mabillon als Ausgangspunkt wählt, auch mit Gefaltetes übersetzt, darum heißt es, dass die Diplomatik eine Falttechnik sei. Diplomaten sind in dem Sinne auch Falter. Das Protokoll, das ein Regime zur Animation oder Bewegung von Körpern ist, ist ein Faltprotokoll. Diese Bezeichnungen kursieren und kreisen in der Literatur, und sie kursieren oder kreisen so, dass man sagen muss, dass diese Bezeichnungen ins Metaphorische immer weiter anwachsen, aber sich auch immer mehr ins Begriffliche ziehen. Teilweise wird eben wirklich gefaltet, teilweise im übertragenen Sinne.
Die These ist, dass Raffaels Bild auch deswegen an der Tafel 79 teilnimmt, weil dasjenige, was Warburg an Vorprägung interessiert, nicht nur auf der Ebene der Bildmotive oder der Gesten und Gebärden eine Rolle spielt, sondern schon auf der Schicht von Stellen im Material, zu denen man nicht mehr sagen kann, als dass sie graphisch sind. Schon Falten sind Vorprägungen – schon durch sie läuft eine Technik, Reproduktion und Repräsentation, die dann alle möglichen, auch juridische Funktionen hat. Das Engramm, die im Körper hinterlassene und sich als Prägung vererbende Erinnerung, der Warburg auf der Spur war, wird auf der Ebene technischer Routinen wie dem Falten zum Teil einer Engrammatik. Die These lautet weiter, dass die Abbildung des Freskos an der Tafel teilnimmt, auch weil Warburg sich im Prager Priester ‹spiegelt›, das heißt, seine Praxis reflektiert. Der Priester hantiert mit einem gefalteten Textil, das im Laufe der Geschichte selbst den Charakter eines Bildes oder einer Bildtafel bekommen hat.
Abb. 5: Aby Warburg, Mnemosyne-Atlas, Tafel 79 (Linien von Fabian Steinhauer). © The Warburg Institute, London.
Abb. 4.: Detail aus: Aby Warburg, Mnemosyne-Atlas, Tafel 79, Photographie. Um 1929. © The Warburg Institute, London.
Auch Warburg hantiert mit Falten, das sind auf Tafel 79 vor allem die beiden Blätter, die Warburg dem Hamburger Fremdenblatt (Abb. 4) entnimmt. Der Rekonstruktion von Roberto Orth und Axel Heil nach – die die Tafeln nicht nur als Bilder, sondern auch als Operationsfelder begreifen lässt – ist das obere Blatt aufgefaltet, das untere Blatt eingefaltet. Beide Blätter entstammen der tabloid press. Das Zeitungspapier hat sich zu der Zeit vielleicht schon von der Textilproduktion gelöst, es wird um 1929 herum nicht mehr mit Lumpen hergestellt, sondern aus Zellulose. Man erkennt das an der Bräunung und der Brüchigkeit des Papiers. Aber als Text bleibt das Zeitungspapier im übertragenen Sinne mit den Textilien verknüpft. Die Falten lassen sich noch einmal unterscheiden. Da sind korrekte Falten, so wurde eventuell das Hamburger Fremdenblatt ausgeliefert. Sie laufen in einem geraden Winkel und teilen das obere Blatt horizontal in der Hälfte. Man sieht solche Falten mehrfach auf dem Blatt, sowohl in der Aufnahme von 1929 (Abb. 4) als auch in der Rekonstruktion von 2020. In Letzterer grenzt so eine Falte etwa das untere Zeitungsblatt nach oben hin ab und durchteilt das Bild der Klapp- oder Faltstühle in der linken Ecke, dieser kleinen Referenzen an den Stuhl in Raffaels Bild.
Zu sagen, Warburg spiegele sich im Priester, weil er wie dieser technisch, diplomatisch an Tafeln etwas faltet und evident macht, das bleibt problematisch. Anders: Warburg teilt Ähnlichkeit mit dem Priester, er macht Ähnlichkeit mit. Aber soll das Selbstreferenz, Selbstkommentar sein? Soll sich Warburg mit dem Priester identifizieren? Warburg findet für sich und seine Praxis Metaphern, bis in das Material hinein. Die visuellen Bezüge, die bis hin zu einer durchaus dichten Gleichung getrieben werden, sind Teil von Warburgs Operation als Glossator römischer Gründungsszenen. Dennoch: keine Selbstreferenz, nirgends, es sei denn, mal will die Verfremdung brutal unterschlagen. Warburgs Operationen sind in dem Sinne Kunst als Verfahren, Kunst als Kunstgriff – und ihre Legitimität durchläuft das/die Fremde.