Unfassbar nahIlse Schneider-Lengyels Skulpturfotografie

+/– Vergrößert man ein Bild, erreicht man plötzlich einen Punkt, an dem sich das Genauerwerden in sein Gegenteil verkehrt. Gerade stand das Lupen-Plus noch für Erkenntnismaximierung, da verschwimmt alles ins Unkenntliche. Nah kippt ins Zu-Nah. Schnell switcht man zum Minus, fährt in Prozentzahlen nach unten, bis man den Überblick zurück hat. Als Grau und Dunkelgrau auf dem Bildschirm vor mir zerfließen, zoome ich raus, zurück auf null. Nochmal zum Ausgangspunkt der Google-Suche: Die Gruppe 47, gegründet auf dem Grundstück von Ilse Schneider-Lengyel. Ein Haus am Bannwaldsee im Allgäu. Seine Besitzerin laut Suchmaschine «Fotografin, Ethnologin, Dichterin» (1903-1972). Studium in München, Paris und Berlin, am Bauhaus bei Moholy-Nagy. Ehe mit László Lengyel, einem jüdischen Maler und Architekten aus Ungarn. Zusammen mit ihm geht sie 1934 ins französische Exil. Als Textprobe der Dichterin verzeichnet Wikipedia ein eher mittelmäßiges Gedicht. Ich klicke weiter, Fotos von holzgeschnitzten Masken, Porzellanpuppen, Rodin-Skulpturen. Eine Frau mit dunklem Haar und sprödem Blick. Auf ihrer Nachlass-Seite der Bayerischen Staatsbibliothek gibt es ein Bildarchiv, Signatur: BSB Ana 372/0. Ich scrolle durch, vorbei an Bergseen, Masken, Menschen, an ein paar Bauhausmöbeln, Hunden vor Bauhausmöbeln, Selbstporträts. Schließlich ein Bogen aus Papier, der mehrere Bilder versammelt. Eine Fotostrecke wurde hier angeordnet, inventarisiert.

Verschwommen sieht die Seite aus, vier mal vier Aufnahmen, rechts unten fehlt ein Bild, nur schemenhaft kann man die Skulpturen erkennen. Maria mit dem Kind, mal ganz nah dran, mal weiter weg, mal mit, mal ohne Jesuskind im Fokus. Wie viele unterschiedliche Skulpturen sind hier eigentlich zu sehen? Die Nördlinger Madonna, der sich elf der Aufnahmen nähern, zeigt je nach Lichteinfall und Blickwinkel immer ein anderes Gesicht. Von oben abgelichtet zart und weich, wirkt es in der Profilansicht hingegen kantig. Ich möchte näher ran und zoome, entdecke Wasserflecken auf den Bildern, oder ist da sogar der Stein der Statue beschädigt? Die Schatten, die sich über die Gesichter legen, tun ihr Übriges. Ich zoome weiter rein, auf 600% öffnen sich alle Steinporen der Mutter Gottes, jedes einzelne Jesuslöckchen figuriert zimtschneckengroß im Bildausschnitt. Trotzdem wirken die Fotos auf mich immer noch verschlossen. Nochmal ein Stück zurück: Schneider-Lengyel hat diese Skulpturen 1935 abgelichtet. Ihr Inhaber, Kronprinz Rupprecht von Bayern, gestattete der Fotografin wohl mehrfach Aufenthalt in seinen Sammlungen. In Erinnerungen an ihre Arbeit auf Schloss Berchtesgaden hält Schneider-Lengyel fest:

Ich fand sie, die geliebten Madonnen, denen ich nicht glich – Da ich aber mit den Museumsdienern der europäischen Länder ein ungesprochenes Abkommen habe, die Figuren berühren zu dürfen und ihren Linien und Formen nachzugehen, so tat ich auch hier. Die Tür war ja hinter dem Castellan ins Schloss gefallen und die Heiligen sind einsam.1

Eine intime Szene. Wie Schneider-Lengyel sich den Skulpturen nähert, ihre Konturen abtastet, die Heiligen berührt – und das wohl nicht allein mit Licht und Linse –, kann man in den Fotografien erkennen. Die Perspektivwechsel der Reihe umkreisen die Figuren, zeugen von Vor, Zurück – Aufschauen, Umdrehen – noch einmal so, vielleicht von hier, doch lieber noch ein Stückchen näher. Diese Dynamik holt Schneider-Lengyel auch in die Einzelaufnahmen: Durch angeschrägte Perspektiven wirken die Skulpturen beinah belebt.

Ein Jahr vor ihren Studien in Berchtesgaden hatte sich Schneider-Lengyel bereits mit ihrem ersten Bildband, Die Welt der Maske, einen Namen gemacht: 80 Schwarz-Weiß-Fotografien von Masken aus Tirol, Afrika, Asien und Alt-Griechenland in einer Schau vereint. Auch hier sind die Objekte gezielt dynamisch inszeniert: Schneider-Lengyel sucht das Ekstatische im Statischen. Karnevaleskes Lachen und in Gips gegossene Trauer erscheinen in den Aufnahmen der starren Masken sonderbar bewegt. Diese Eigentümlichkeit der Blickwinkel beeindruckt die Kritik. Der Völkische Beobachter jedoch verdammt den Band: Die Botschaft, die Schneider-Lengyel ihren Aufnahmen im Vorwort zuschreibt, – dass «alle Menschen lachen, weinen, Furcht oder Schrecken [zeigen], wenn auch die Gebärde verschieden sein mag»2 – passt dort nicht ins Weltbild: «Verneinung der urgegebenen Qualitätsunterschiede von Persönlichkeiten, Völkern und Rassen».3 Im selben Jahr verlässt die Fotografin Deutschland.

In Frankreich im Exil fasst Schneider-Lengyel erstaunlich rasch Fuß und publiziert zwei Bildbände im renommierten Verlag Librairie Plon, Paris. Zugleich nimmt sie jedoch die Arbeit am Projekt Das Gesicht des deutschen Mittelalters auf, für das sie weiterhin nach Deutschland reist. 1935 erscheint der Band im führertreuen Bruckmann-Verlag, München. Beim Durchblättern des Buchs, leinengebunden, beige mit brauner Schrift, entdecke ich die Nördlinger Madonna wieder und bin aufs Neue von ihr irritiert. Hier steht sie nun in einer Reihe «deutsche[r] Köpfe»,4 wie das Vorwort verkündet: «Als Kunstwerke wollen sie dazu beitragen, die treibenden und werdenden Kräfte eines Volkes zu enthüllen». Der Text, mit dem die Fotografin diese Bilder rahmt, will gänzlich andere Rezeptionsweisen hervorbringen als noch die Einleitung zu ihrem letzten Band: Die Fotos sollen anregen, «aus aller Mannigfaltigkeit den deutschen Menschen herauszufühlen» und dabei jene Größe sichtbar machen, zu der er «stets sich und seinem Blute treubleibend und fremde Einflüsse überwindend durch seinen hohen schöpferischen Willen und sein angeborenes Gestaltungsvermögen» gefunden hat. So Schneider-Lengyel, in deutlichem Kontrast zum humanistischen Universalismus, der Die Welt der Maske prägte.

In diesen seitenlangen Ausführungen zum Blut, Geist und der «heroischen Persönlichkeit» der «deutschen Stämme» rückt Schneider-Lengyel in eine irritierende, ja sehr beunruhigende Nähe zur völkischen Ideologie,5 bevor sie 1936 vom Verlag selbst abgestoßen wird: «Da sich die Aufnahme von Frau Schneider-Lengyel in die Schrifttumskammer des 3. Reiches, auf Grund ihrer Verehelichung mit einem jüdischen Mann als nicht möglich erwies, mussten wir […]».6

Ich blättere noch einmal durch den Band. Deutsch, heldenhaft, erhaben. Wie jeder Rahmentext schreibt sich auch dieses Vorwort ins Gerahmte ein, liegt wie einer der Flecken auf den Bildern, von denen ich nicht sagen kann, ob sie das Resultat eines Belichtungsfehlers sind, Wasserrückstände auf dem Bogen oder tatsächlich da im Stein. Vom Bild sind sie in jedem Fall nicht abzulösen. Trotzdem versuche ich genau das immer wieder: Im Rein- und Rauszoomen zu klären, wie Fleck und Bild, Fleck und Figur denn zueinanderstehen. Auch Schneider-Lengyels Text lässt sich nicht länger ausblenden und bleibt zugleich nur eine Schicht, nur eine Rahmung unter vielen. Gleich zu Beginn des Vorworts schreibt sie: «darum sollen hier die Bilder der mittelalterlichen Köpfe als der eigentliche Text gelten.»7 Es folgen 20 Druckseiten Erklärung. Ein Rahmentext, der sich selbst aufzuheben sucht? Nicht nur das Vorwort formt und steuert, was wir sehen, wie wir deuten. Im selbsterklärten Anspruch, «durch das Visuelle selbst den Beschauer zu führen»,8 lenkt die Fotografin auch ohne Worte unseren Blick.

Die Perspektiven, die Schneider-Lengyel wählt, nehmen ihre ganz eigene Rahmung vor. Dabei scheint es mir immer mehr, als ob sie der im Text betonten Überlegenheit der «deutsche[n] Köpfe»9 gezielt entgegenstreben: Statt ehrfürchtig Distanz zu wahren, rücken die Aufnahmen den Heiligen ganz dicht zu Leibe. Sie fokussieren Risse, beleuchten abgeschlagene Partien und stellen so die Unvollkommenheit dieser Figuren aus. Aus nächster Nähe blicken wir ihnen ins Gesicht. Keiner der Köpfe ist komplett zu sehen, immer sind Kanten angeschnitten. Heroisierenden Betrachtungsweisen entziehen diese Nahaufnahmen ihre Grundlage. Man spürt, dass ihre Fotografin entgegen musealer Konventionen den Stein berührt, die Skulpturen betastet hat. Wenn das Erhabene uns mit Schiller «einen Ausgang aus der sinnlichen Welt [verschafft]»,10 so kratzen Schneider-Lengyels Fotografien an der Erhabenheit ihrer Objekte, indem sie sie dezidiert sinnlich fassen, kurzum: anfassen.

Ilse Schneider-Lengyel: Abbildung Schlafender Johannes aus einer Ölberggruppe, in: Ilse Schneider-Lengyel: Das Gesicht des deutschen Mittelalters, München 1935, S. 29, Digitalisierung durch die Autorin.

Ilse Schneider-Lengyel: Abbildung Madonna mit den Kinde auf der Mondsichel, in: Ilse Schneider-Lengyel: Das Gesicht des deutschen Mittelalters, München 1935, S. 32, Digitalisierung durch die Autorin.

Zugleich haftet dieser Berührung ein Befremden an. In ausschnitthaften Perspektiven fahren wir mit der Fotografin die Gesichtszüge entlang. Diese distanzlosen Blickwinkel wirken bisweilen eher zudringlich als einfühlsam. Schneider-Lengyel nähert sich den Figuren bis zum Moment der Unschärfe und führt uns so an jenen Umschlagpunkt, an dem Intimität einen Distanz-Impuls hervorruft. Die Grenze zwischen nah und zu nah wird von den Bildern immer wieder überschritten. Im Augenblick größter Intimität kommt es so zur Entfremdung. Hier entsteht eine Nähe, die zu nahe geht und die Betrachterin zum Abstandnehmen drängt, Minus-Reflex, Zoom out. Wieder hat sich ein Plus ins Gegenteil verkehrt. Wird dieses Kippmoment bei Schneider-Lengyel zur subversiven Strategie? Während der Rahmentext Identitätsstiftung durch die Begegnung mit «deutschen Gesichtern» verspricht, lösen die radikalen Nahaufnahmen ein Befremden aus, das diese Stoßrichtung durchkreuzt. Wie viel von dieser Abstoßkraft aber lag in den Bildern selbst, wie viel habe ich an die Heiligen herangetragen und so die Fotografien mit meiner eigenen Rahmung imprägniert? Vermutlich bleibt auch das ein Spiel von Plus und Minus. Jede Betrachtung eine Neubelichtung – jenes Kontaktmoment der Fotochemie, in dem der Lichteinfall die Elektronen freisetzt und neu bindet. Eine Berührung, die nur das beleuchtet, was schon da ist, es dabei jedoch grundlegend verschiebt. – / +

Jana Maria Weiß
  1. Ilse Schneider-Lengyel: Rupprecht [undatiertes Manuskript, Nachlass Schneider-Lengyel, Bayerische Staatsbibliothek, Signatur: Ana 372/0, Schachtel 4], S. III.

  2. Ilse Schneider-Lengyel: Die Welt der Maske. München 1934, S. 21.

  3. Dr. W. R.: „Symbol und Zauber der Maske“. In: Völkischer Beobachter, 4. Mai 1935, abgedruckt in: Peter Braun: Ilse Schneider-Lengyel. Fotografin, Ethnologin, Dichterin. Ein Porträt. Göttingen 2019, S. 72f.

  4. Ilse Schneider-Lengyel: «Einleitung: Das Lichtbild als Gestaltung». In: Dies.: Das Gesicht des deutschen Mittelalters. München 1935, S. 7-32, dieses sowie alle nachfolgenden Zitate dieses Absatzes befinden sich auf S. 7.

  5. Ebd., S. 19; S. 27.

  6. Nachlass Schneider-Lengyel, Bayerische Staatsbibliothek, Signatur Ana 372/0, Schachtel 9, Mappe «Personalia».

  7. Ilse Schneider-Lengyel: «Einleitung: Das Lichtbild als Gestaltung». In: Dies.: Das Gesicht des deutschen Mittelalters. München 1935, S. 7-32, S. 7.

  8. Ilse Schneider-Lengyel: Rodin [undatiertes Manuskript], zit. n. Alfons Maria Arns & Heike Drummer (Hg.): Ich bin als Rebell geboren. Ilse Schneider-Lengyel. Ausstellungskatalog der Gemeinde Schwangau 2017.

  9. Ilse Schneider-Lengyel: «Einleitung: Das Lichtbild als Gestaltung». In: Dies.: Das Gesicht des deutschen Mittelalters. München 1935, S. 7-32, S. 7.

  10. Friedrich Schiller: «Über das Erhabene» (1801). In: Ders.: Sämtliche Werke. Fünfter Band: Erzählungen / Theoretische Schriften. Hg. v. Gerhard Fricke & Herbert G. Göpfert. München 1989, S. 792-808, hier S. 799.