StilllebenEin Gemälde von Juan Sánchez Cotán

Aus den im Bild zusammengestellten Objekten – Tieren, Obst, Gemüse – hebt sich zunächst der Strunk am rechten Rand hervor. Er sticht durch seine Größe und die weiße Färbung vor dem schwarzen Hintergrund besonders ins Auge. Er liegt zusammen mit den anderen Objekten in einer nach vorn offenen, im Innern nicht ausgeleuchteten Vorratsnische, von der die untere und die beiden seitlichen Begrenzungen zu sehen sind; sie geben dem Bild einen inneren, nach oben offenen Rahmen. Der Strunk ist an die Seitenwand der Nische gelehnt und ragt aus ihr, wie auch andere der Objekte, unten ein wenig in Richtung auf den Betrachter heraus. Der größte Teil der Gegenstände ist in vertikaler Richtung angeordnet, die durch den Strunk besonders betont wird. Der obere Rand der Nische ist zwar nicht zu sehen, aber, da einige der Objekte an ihm befestigt sind und von ihm herabhängen, implizit und unsichtbar im Bild anwesend. Der weiße Strunk gibt der Vertikalen durch seine gebogene Form eine Dynamik, die jedoch durch den Rahmen der Nische gebremst und eingehegt bleibt. Das ergibt eine Spannung von Innen und Außen sowie Oben und Unten. Die vertikale Dynamik bricht sich am oberen Rand der Nische; dem entspricht die horizontale Bewegung am unteren Rand aus der Nische heraus. Der Schwung nach oben drängt über den Rahmen hinaus, verbleibt aber in seinem Innern. Eine Überschreitung des Rahmens findet unten statt: als immanente Transzendenz.

Das Bild ist ein Stillleben. Sein Besonderes zeigt sich auch vor dem Hintergrund der Gattung. Das Stillleben ist in der frühen Neuzeit neu entstanden. Es geht dabei zunächst um Darstellungsrealismus. Die von Plinius d. Ä. überlieferte Anekdote vom Malerwettstreit zwischen Zeuxis und Par­rhasios gibt dafür das Maß. Die Trauben des einen wirken so echt, dass sogar die Vögel angeflogen kommen. Parrhasios hat einen Vorhang so wirklichkeitsgetreu gemalt, dass Zeuxis ihn auffordert, ihn zur Seite zu ziehen, um das Bild zu zeigen. Als er seinen Irrtum erkennt, gesteht er dem anderen die Meisterschaft zu, denn der eine habe die Vögel, der andere den Künstler getäuscht. Das wirklichkeitsgetreue trompe l’œil von Obst, Gemüse, Blumen oder anderen leblosen Gegenständen war eine bereits in der Antike verbreitete Bildgattung.

Die neuzeitlichen Begriffe für den Bildtypus – stillleven, Stillleben, still-life und nature morte, naturaleza muerta – bezeichnen zunächst die unbewegliche – stille oder tote – Vorlage, die «nach der Natur» oder «nach dem Leben» abgemalt wurde. Ingeniöse Deutungen dieser oxymorontischen Prägung, die Natur und Tod, Leben und Unbeweglichkeit verbinden, sind späteren Datums; sie haben aber vielleicht etwas gesehen, das über den technischen Begriff hinausgeht und in ihm angelegt ist. Bereits die Geschichte von den Trauben des Zeuxis zeigt, dass es darum ging, wer der bessere Maler sei – und vielleicht auch darum, was Kunst über das Handwerkliche hinaus sein könnte. Die Reaktion des Zeuxis erweitert die Frage. Der Maler erkennt seinen Irrtum; und so geht es jedem Betrachter. Das Bild ist nur Schein des Wirklichen; das scheinbar Greifbare ist in Wahrheit ein Bild. Die Spannung von natürlicher Vorlage und naturgetreuer Abbildung sowie unbeweglich totem und schein­haftem Ding ist den Bildern wesentlich. Ernst Gombrich meinte, jedes Stillleben sei ein Vanitas-Bild: «Je raffinierter die Illusion, desto eindringlicher die Moral vom Gegensatz zwischen Schein und Sein.»

Der Gedanke lässt sich weiterführen. Die Erkenntnis des Irrtums in Hinsicht auf die Realität des Dargestellten verweist den Betrachter auf das Bild zurück und macht dessen Kunstcharakter erkennbar. Der Abbildrealismus wird zum Medium der reinen Künstlichkeit. Das Bild der Na­turob­jekte geht in seiner Bildhaftigkeit, etwa durch die Anordnung der Objekte, über die Natur hinaus. Dieses Über-die-Natur-hinaus ist das Metaphysische; die Stillleben sind pictura metaphysica, indem sie die Dinge in ihrer Dinghaftigkeit darstellen und erkennbar werden lassen. Das könnte Gom­brich im Sinn gehabt haben. Einige Überlegungen zu dem Bild von Juan Sánchez Cotán (15601627), der seit 1603 Ordensmitglied der Kartause von Granada war, können zeigen, was ich damit meine.

Das Bild ist 1602 entstanden; es ist eines der ersten Stillleben in Spanien und fällt überhaupt in die Frühzeit des Genres. Man sieht, was man auf Stillleben so sieht: Obst, Gemüse, tote Tiere: hier von oben ins Bild hineinhängend drei Zitronen, sieben Äpfel, einen Stieglitz und einen weiteren Singvogel sowie zwei Rothühner (Rebhühner), an den linken Rand gelehnt einen Bambusstab mit sechs weiteren Stieglitzen, auf dem unteren Rand des Rahmens fünf Stücke Wurzelgemüse und an den rechten Rand gelehnt eine Karde. Das ist die elementare, gewissermaßen literale Ebene des Bilds: eine Reihe von Stücken, die auf ein Essen verweisen: Fleisch, Gemüse, Obst; Süßes, Saures, Bitteres. Das Salzige scheint zu fehlen – oder ist es als ars salis des Ingeniums in den konzeptuellen Gehalt des Bildes sublimiert? Der Bambusstab und die Karde weisen von unten nach oben; das Obst und die Vögel zeigen die Richtung von oben nach unten an. Im Schnittpunkt der beiden Diagonalen, also in der Mitte des Bildes, hängen die beiden Rothühner. Die Diagonale von links unten nach rechts oben unterteilt das Bild in zwei Hälften, die konzeptuell zu unterscheiden sind. In der so entstehenden rechten unteren Hälfte befindet sich das Gemüse, in der linken oberen das Obst und die Vögel. Das ergibt die Unterteilung von unten und oben als die von Erde und Luft, die ihrerseits noch einmal eine Unterteilung zulässt. Die Wurzeln wachsen unter der Erde, ihr Grün und die Karde über der Erde; die Zitronen und Äpfel hängen, an Bäumen wachsend, in der Luft, die Vögel fliegen frei in der Luft am Himmel. So sind vier Bereiche im Bild repräsentiert: vom Unterirdischen über die Erde und die Luft zum Himmel. Das Licht fällt von links, etwa in der Richtung der Diagonalen. Dadurch wird die untere Hälfte des Bilds, die durch die weiße Karde ohnehin stark hervorgehoben ist, noch stärker betont. Die untere Hälfte liegt im Licht, ist aber gewissermaßen in Schwarz und Weiß gehalten; die obere Hälfte erhält weniger Licht, ist aber in Farbe gemalt.

Der Stieglitz ist auf Madonnenbildern oder Darstellungen der Heiligen Familie eine Figura Christi; wegen seines Hangs zu Disteln – er heißt auch Distelfink – deutet er auf die Passion voraus; die links auf den Bambusstab gereihten Vögel sind wohl mit Leimruten gefangen. Will man diese Spur verfolgen, sieht man an dem Apfel links eine wurmstichige Stelle und kann in der Anordnung der Wurzeln vage eine Kreuzform erkennen. Die Karde ist formal das auffälligste Moment im Bild. Sie treibt die Bewegung von unten nach oben – indem sie sich in Form einer Hyperbel der Asymptote des rechten Rahmens annähert – über den Bildrahmen hinaus ins Unendliche.

Ein anderes formales Moment besteht in der Anzahl der einzelnen Elemente. Die Karde ist ein Stück, die beiden Rothühner sind zwar zwei, aber sie sind im Unterschied zu den beiden anderen Vögeln zusammengebunden, so dass sie in der Zweiheit zugleich eine Einheit bilden. Dann folgen drei Zitronen. Die hängenden Singvögel bilden eine Vierergruppe. Die Wurzeln sind insgesamt fünf, lassen sich aber untereinander in kleinere Gruppen unterteilen. Die Stieglitze am Bambusstab sind zusammen sechs und die Äpfel sind insgesamt sieben. Das ergibt nachgerade eine Phänomenologie der Gruppenbildung: die lose zusammengelegten Wurzeln, die nebeneinander hängenden Singvögel, die zusammengebundenen Äpfel und die an dem Bambusstab aufgereihten Stieglitze, die an einem Zweig zusammen wachsenden Zitronen sowie die ebenfalls zusammengebundenen, aber auf den ersten Blick wie eines wirkenden Rothühner und schließlich die Karde, die numerisch eines ist, aber aus acht Stängeln besteht. Diese Vielheit in der Einheit und Einheit des Vielen – sie hat ihre Korrespondenz in den Schwanzflügeln der Stieglitze auf dem Bambusstab – gibt dann möglicherweise als ein Denkbild eine Konzeption von Natur, die sich nicht im Abbildrealismus erschöpft. Im Rahmen der Zahlensymbolik übrigens ist die Acht die Zahl der Auferstehung, denn Christus ist am achten Tag von den Toten auferstanden. Das würde der Hyperbel der Karde ihren anagogischen Sinn und dem Bild seinen metaphysischen Gehalt geben. Die Bewegung geht von der Einheit zur Vielheit und zur Vielheit in der Einheit oder Einheit in der Vielheit. Und diese Viel-Einheit hat die Gestalt einer Hyperbel, einer Figur des Unendlichen. Einheit und Vielheit sind jeweils natürlich und kulturell: zusammengefügt, zusammengewachsen; angeordnet, entstanden: von der Natur über die Kultur zur Übernatur. Eine in der Prämoderne aufkommende Frage ist, ob das Unendliche religiös-christ­lich oder wissenschaftlich-mathematisch zu begreifen und zu bestimmen ist: ob es eine Figur der Transzendenz oder der Immanenz ist. Das Bild von Sánchez Cotán hat seinen Gehalt in dieser Spannung und gibt ihr eine Gestalt; das tiefe lichtlose Schwarz des Hintergrunds macht sie besonders deutlich und deutet zugleich an, dass die durch sie aufgeworfenen Fragen auf den Abgrund des Nichtwissens verweisen.

Gerhard Poppenberg