Stillende Andacht

(Un)sichtbare Klappeffekte in Jean Fouquets Diptychon von Melun1


Das oftmals bemühte Wort Christian Morgensterns, man sehe oft etwas hundert, tausend Mal, ehe man es zum allerersten Mal wirklich sehe, gewinnt mit jenen ästhetischen Erfahrungen verblüffende Evidenz, in denen sich das, von dem man glaubte, es sei bereits bekannt und vertraut, von allen Winkeln aus betrachtet und vermessen, schlagartig auf eine zuvor ungeahnte und radikal neue, zugleich aber unmittelbar zwingende und so notwendige Weise zeigt, dass es kein Zurück mehr gibt. Jean Fouquet betreibt in seinem Diptychon von Melun, das in keinem Überblickswerk zur Malerei des Spätmittelaters fehlen darf, ein bisher nicht wahrgenommenes Versteckspiel, das sich erst dann offenbaren kann, wenn die beiden Tafeln des Diptychons auf- und zusammenklappt werden oder dieser Vorgang zumindest gedanklich vollzogen wird.


Wandelbilder sind nicht für die museale Betrachtung gefertigt worden, der sich die Dreidimensionalität und Performativität solcher Tafeln entzieht. Erschwerend kommt hinzu, dass die beiden Flügel im 18. Jahrhundert voneinander getrennt wurden. Als die beiden Bilder 2017 in der Berliner Gemäldegalerie nach achtzig Jahren wieder zusammen hingen, war das Ereignis von einem großen medialen Interesse begleitet.2 Das Unmögliche sei möglich gemacht worden, die beiden Tafeln seien wieder vereint.3 Doch waren sie das, wieder vereint? Tatsächlich zeigten die beiden als Paar gehängten Bildtafeln nur eine Variation dessen, was das Diptychon dereinst als Objekt leisten konnte, denn in dieser Anordnung war das Werk vor seiner musealen Karriere einzig zu sehen, wenn jemand im Gebrauch die Flügel geöffnet hatte. Die Ausstellungsbesucher in Berlin schauten mit den beiden nebeneinanderhängenden Tafeln dem Diptychon somit tief ins geöffnete Herz. Leicht konnte man glauben, das Werk damit wirklich vor sich zu haben. Der Status des so geöffneten Doppelbildes ist jedoch eine Momentaufnahme, denn die beiden Tafeln wurden nicht allein als das starre Bilder-Paar gefertigt, als das wir es heute für gewöhnlich wahrnehmen. Das Diptychon galt es zu schließen und zu öffnen. Dieses Moment entzog sich letztlich auch im Rahmen der Ausstellung. Die Klappeffekte, welche den Buchseiten, Diptychen und Triptychen immanent sind und die sie mit anderen Objekten wie Türen, Orgelflügeln, Fenstern und Amuletten teilen, rückten erst in der jüngsten Zeit überhaupt in den Fokus der kunsthistorischen Arbeit.4 David Ganz zeigte, dass gerade Diptychen durch ihre Klappbarkeit über die Scharniere immer wieder miteinander verbunden und voneinander getrennt werden, womit das Bedienen ihrer Flügel als ein Handeln mit Bildern zu verstehen ist. Gerade ihr Scharnier als Merkmal der Beweglichkeit, mache diese Gattung zu einem interaktiven Trägermedium, «das sein wahres Potential erst in den Händen seiner Besitzer entfaltete, in einer nahsichtig-taktilen Rezeptionsform, die das genaue Gegenteil jeder distanzierten Betrachtung starrer Bildhängungen ist, die der museale Raum zu erzwingen scheint».5


Nun, was geschieht, wenn sich Fouquets Bildtafeln übereinanderlegen? Die beiden Tafeln werden sinnstiftend zu einer neuen und überraschenden Bildkomposition verbunden, die sich dem Blick des Betrachters verbirgt.6 Ähnlich einem Palimpsest, bei dem zwei Oberflächenstrukturen sich überlagern, überlagern sich hier zwei Bilder, pressen sich aufeinander, verbinden sich und werden zu etwas Neuem, das die Bildsemantik der geöffneten Flügel auslöscht. Die neue Bildaussage jedoch wird beim Öffnen des Diptychons von Melun und Hervortreten seiner Doppelpaarbildlichkeit sofort wieder aufgehoben. In einer zarten, fast beschützenden Geste hat der heilige Stephanus seine rechte Hand hohl und leicht, mit dezent angewinkelten Fingern, die fast wie eine anatomische Funktionsstellung7 wirken, auf die Schulter des Stifters, Étienne Chevalier, gelegt, der, mit einem schweren und pelzbesetzten roten Rock bekleidet, die Hände zum Gebet faltend und den Blick anscheinend meditativ ins Leere schweifen lassend, seine Andacht verrichtet. In seiner Linken hält der Heilige seine Attribute: ein rotes Evangeliar mit goldenen Schließen, goldenem Buchschnitt und einen erdfarbenen Stein. Das Rot und Gold setzen sich auf der Borte seiner Dalmatika fort. Rot ist auch das Blut seines erlittenen Martyriums, das von seinem Haupt über den Kranz der Tonsur in seinen Kragen tropft.


Doch der Stifter und sein Patron sind in der Darstellung nicht allein über Rottöne und die beschützende Geste miteinander verbunden. Das Inkarnat, das Fouquet dem Gesicht Étiennes gegeben hat, ist von deutlich dunklerer Farbe als der Rest seines Körpers, geht nahezu in dem Erdton auf, den der Stein seines Patrons hat, und nähert sich auch dem Ton der beschützenden Hand des Heiligen an. Die Pigmente der Gesichtsfarbe des Stifters basieren auf eisenhaltigen Erden, die den Teint Étiennes dunkel erscheinen lassen.8 Deutlich im Kontrast dazu stehen jedoch die hellen, zum Gebet gefalteten Hände des Stifters, die fast den Anschein erwirken, angestrahlt zu werden, und die wiederum mit der Gesichtsblässe des Heiligen korrespondieren. Die Gesichter der beiden nahezu lebensgroßen Halbfiguren und die Hände, bzw. das Attribut des Heiligen, sind so durch ein imaginiertes und blickführendes diagonales Kreuz miteinander verbunden, dessen Scheitelpunkt ungefähr die Bildmitte der Berliner Tafel einnimmt.


Die Bewegung der Tafel ist bereits in der sich leicht nach rechts ausgerichteten Positionierung der beiden Halbfiguren, des Stifters und seines Patrons, angelegt, die das als Halbbogen auszuführende Schließen auf die Madonna hin und vor dem Bedienenden der Tafel antizipiert. In dem Moment, in dem Étienne Chevalier seinen Bildrahmen berührte, wurde auch das Bild selbst zu einem Akteur. Aus der beschützenden Geste des heiligen Stephanus, die sie im Status der vollendeten Öffnung der Tafeln darstellt, wird ein unterstützendes Führen des Stifters auf die Madonna zu oder ein begleitendes Rückwärtsleiten von ihr fort, wenn die Tafel geöffnet wurde. Besitzer und Patron verschmolzen dann zu einer Einheit, die die Darstellung des Stifters, je nach Öffnungswinkel, in eine veränderte Stellung zur Madonna und somit in die jeweils gewünschte Position brachten.


Das Schließen des Bildes veränderte die Bildaussage vollends, ohne dass der Betrachter das, was zwischen den aufeinanderliegenden Tafeln geschah, physisch sehen konnte. Werden die Tafeln geschlossen und hat der heilige Stephanus den Stifter in Richtung der Muttergottes geführt, dann erschließt sich der Sinn hinter der Komposition der Antwerpener Tafel neu. Die milchig weiß leuchtende Himmelskönigin hält mit ihrer Linken den ebenso weißen Christusknaben auf der linken Seite ihres Schoßes, der in Gänze von den gleichfalls weißen und reichen Falten ihres Umhangs bedeckt ist. Weiß ist ebenso der hauchzarte Schleier, der über die Schultern der Madonna fällt. Allein ihre Lippen scheinen aus sich heraus rot und lebendig zu sein. Perlen zieren sowohl ihre Krone als auch den sedes sapientiae, auf dem sie beinahe Platz genommen zu haben scheint, und der von roten und blauen Engeln umrahmend getragen wird.9 Die Schnürung ihres blauen Gewandes ist geöffnet und entblößt ihre linke, volle Brust, deren Mamille und Areola in zartem Rosa angedeutet sind. Die Rötung wird auch auf ihren und den Wangen Christi fortgeführt. Ist die linke Bildtafel geschlossen und die Bewegung ausgeführt, das Doppelbild-Paar also zum «Sandwichbild» vereint, kniet der Stifter in den Falten des von Maria weit geöffneten Mantels und wird von ihr gestillt;10 die beiden Flügel vereinen sich zu einer Lactatio.

Die Komposition der Tafeln, so zeigt die rudimentäre Rekonstruktion, wurde von Fouquet so ausgeführt, dass die Lippen des Stifters Areola und Mamille Marias annähernd berühren und der auf ihrem Schoß sitzende Christus dem Gestillten in die Brust und somit förmlich in dessen Herz blicken kann (Abb. 2). Die kunsttechnologische Untersuchung hat gezeigt, dass sowohl der Kopf Étienne Chevaliers als auch der des heiligen Stephanus von Fouquet korrigiert wurden, obwohl der Abschnitt der Tafel schon fast fertiggestellt war. Der Kopf des Stifters wurde nach vorn geschoben, der des Heiligen dezent nach links korrigiert.11 Die minimalen Veränderungen nach vorne, die Fouquet am Kopf des Stifters vorgenommen hat, sind somit einer Korrektur dieser Position geschuldet, damit sich die beiden Bildpunkte exakt treffen können. Aus der im geöffneten Zustand der Tafeln so rätselhaften Bewegung Mariens, die sich entweder auf den sedes sapientiae zu setzen oder aus ihm zu erheben scheint, wird, sobald sie den Stifter an ihrer Brust liegen hat, ein Entgegenneigen Mariens zu Chevalier, zum Empfänger ihrer Nahrung.


Dass es sich bei der veränderten Bildsemantik durch das Schließen der Tafeln nicht um einen bildkompositorischen Zufall oder Nebeneffekt handelt, lässt sich an der Bildgestaltung nachvollziehen, die sich nun in bisher ungeahnter Sinnhaftigkeit zeigt. Da Christus in dieser Tafelposition vom Kopf des Stifters vollends überlagert wird, bekommen nun auch die Blicke der Engel eine andere Zielrichtung. Jener Engel, der an der rechten Schulter Mariens die mit goldenen Fransen geschmückte Kugel der Thronlehne hält und nach unten blickt, schaut nun ebenfalls auf das Haupt Étienne Chevaliers, wie nun auch der rote Engel am linken unteren Bildrand, der die Lehne des Throns hält. Auf der rechten Bildseite wiederholt sich diese Komposition, nur blickt der obere Engel zur Linken Mariens steil aus einer höheren Perspektive auf die Stillszene. Und auch auf dieser Seite bezeugt ein unten positionierter Engel das Geschehen. Während im geöffneten Zustand der Tafeln die Blicke des Stifters in meditativer Andacht ins Leere zu gehen scheinen, nimmt ihr Fluchtpunkt unter dem Kinn Mariens die Szene beim Einklappen des Flügels bereits vorweg und deutet sie an. Auch die eigenartige Anatomie Marias erhält nun einen ganz praktischen Sinn. Schon Huizinga wunderte sich über den Busen Mariens, der übernatürlich breit zu sein scheint, mit «[…] den weit auseinanderstehenden kugelrunden Brüsten».12 Tatsächlich steht diese Darstellung der Muttergottes in deutlichem Gegensatz zu den doch sonst anatomisch so real anmutenden Figuren des Stifters und seines Patrons. Erst, wenn die Bildtafeln sich schließen, wird man gewahr, dass der Stifter lediglich die entblößte Brust der Madonna berührt und keinerlei Kontakt zu der bekleideten Brust hat. Die ihn nährende Brust ist im geschlossenen Zustand der Tafeln vom Kopf des Stifters verdeckt. Fouquet vermeidet demnach jedwede körperlich-erotische Konnotation, indem er Chevalier einzig die Brust der Madonna, getrennt durch den Spalt zwischen den beiden Trägermedien, sinnbildlich berühren lässt, die ihn mystisch nährt. Welche hermeneutischen Konsequenzen aus dieser neuen Beobachtung folgen, wird sich mit der Zeit zeigen.13

Monja K. Schünemann
  1. Dieser Blogbeitrag ist ein essayistischer Para-Text zu einem eingereichten, noch nicht veröffentlichten Fachartikel.

  2. Jean Fouquet. Das Diptychon von Melun (Ausst.-Kat. Berlin, Gemäldegalerie Berlin), hg. von Stephan Kemperdick, Petersberg 2017.

  3. Karen Noetzel, Unmögliches möglich gemacht: Gemäldegalerie zeigt Diptychon von Melun, in: Berliner Woche vom 22. September 2017, Url: https://www.berliner-woche.de/tiergarten/c-kultur/unmoegliches-moeglich-gemacht-gemaeldegalerie-zeigt-diptychon-von-melun_a133208#gallery=null ( letzter Zugriff 14. Februar 2022).

  4. David Ganz/Marius Rimmele, Forschungsgegenstand Klappeffekte. Über diesen Band, in: dies. (Hg.): Klappeffekte. Faltbare Bildträger der Vormoderne, Berlin 2016, S. 7–12 (hier S. 7).

  5. David Ganz, Weder eins noch zwei. Jan van Eycks Madonna in der Kirche und die Scharnierlogik mittelalterlicher Diptychen, in: David Ganz/Felix Thürlemann (Hg.): Das Bild im Plural: mehrteilige Bildformen zwischen Mittelalter und Gegenwart, Berlin 2010, S. 42–65 (hier S. 53).

  6. Diptychen, die mit dieser Art der Klappeffekte ausgestattet sind, gab Krischel den Terminus der «Sandwichbilder». Vgl. Wolfgang Christian Schneider, Die ‹Aufführung› von Bildern beim Wenden der Blätter in mittelalterlichen Codices, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 47.1 (2002), S: 7–35; Roland Krischel, Now you see me. Klappbilder als Medienwunder, in: Klappeffekte, S. 139–160.

  7. Die Hand ist in einer Haltung ausgeführt, die darauf verweist, dass keinerlei Muskeltonus stattfindet: Ruht die Hand, ruht die Tafel.

  8. Kemperdick und Stelzig halten dies für den Ausdruck einer künstlerischen Absicht, da Chevalier von Fouquet auch in seinem Stundenbuch ein dunkles Inkarnat gegeben wurde. Sandra Stelzig, Ergebnisse der kunsttechnologischen Untersuchung von Jean Fouquets Berliner Tafel des Étienne Chevalier, in: Jean Fouquet. Das Diptychon von Melun, Hg. von Stephan Kemperdick, Petersberg 2017, S. 143-150 (hier S. 146).

  9. Zum Sitz der Weisheit vgl. Albert Châtelet, «La Reine blanche» de Jean Fouquet. Remarques sur le «Diptyque de Melun», in: Albert Châtelet/Nicole Reynaud (Hg.): Études d’art français offertes à Charles Sterling, Paris 1975, S. 127–138 (hier S. 130); vgl. Brigitte Kurmann-Schwarz, Regina angelorum et aisericordiae. Zu Bildtypus und Ikonographie der Madonna, in: Kat. Berlin, S. 70–81 (hier S. 72–74).

  10. Zu unser beider Überraschung stellten Roland Krischel und ich in einer kürzlich begonnenen Korrespondenz fest, dass wir unabhängig voneinander zur selben Zeit diese Entdeckung gemacht haben.

  11. Stelzig, Ergebnisse der kunsttechnologischen Untersuchung, S. 146.

  12. Johan Huizinga, Herbst des Mittelalters, 12. Auflage, Stuttgart 2006 (zuerst 1941), S. 224.

  13. Wie in Anm. 1 bereits erwähnt, ist hierzu von mir bereits ein Fachartikel eingereicht, in dem eine erste Deutung unternommen wird.