SpitzengebildeMallarmé und Hugo

Auf Victor Hugos Skizze mit dem Titel «Dentelles et spectres» (Spitze und Gespenster) sind der Abdruck einer Spitze mit unbestimmter floraler und netzartiger Motivik und einzelne hinzu gezeichnete Linien zu sehen, die in ihrem graphischen Zusammenspiel eine Reihe unvollständiger Gestalten erkennen lassen. Was aus dem ungleichmäßig eingefärbten, fast wolkenartig gefleckten Grund des Papiers emporsteigt, sind ein Vogel, einzelne Gesichtsumrisse, Augen, Nasen und Münder. ‹Verdoppelt› werden diese schemenhaft durchschimmernden Gestalten durch die Bildlegende in Großbuchstaben Dentelles et spectres, die dem Gesehenen erst sein Wesen verleihen – sei es auch vorläufig, oder eben spukhaft. Wollte man dieses zeichnerische Experiment Hugos einem Bildtyp zuordnen, so spräche man von einem Zufallsbild oder auch einem potentiellen Bild, wie es etwa Dario Gamboni vorschlägt.1 Dieses Bild von durchscheinender Spitze und gespenstischen Erscheinungen, die gerade auf­scheinen oder wieder verschwinden, beschwört ganz plastisch ein anderes Bild herauf. Man fühlt sich an den «pli de sombre dentelle», die dunkle Spitzenfalte des Dichters Stéphane Mallarmé erinnert. Diese erscheint als Metapher par excellence der Literatur, wie der Dichter sie versteht:

Ce pli de sombre dentelle, qui retient l’infini, tissé par mille, chacun selon le fil ou prolongement ignoré son secret, assemble des entrelacs distants où dort un luxe à inventorier, stryge, nœud, feuillages et présenter.

Diese Faltung dunkler Spitze, die das Unendliche birgt, tausendfach verwoben längs des Fadens jeweils oder ungewussten Weiters, ihr Geheimnis, versammelt zerstreute Schnörkel, in denen ein Reichtum schläft, den es zu inventarisieren, Stryge, Knoten, Blattwerk, und darzubieten gilt.3

In Opposition zur lichten Sternenschrift entsteht dieses Spitzengebilde aus dem sich Schwarz auf Weiß vollziehenden begrenzten Tun, das nichts anderes als das Spiel des Schreibens bezeichnet, das für Mallarmé sinnlos ist. Dieses Gebilde der Literatur beherbergt eine unerschöpfliche Vielfalt, die aber noch schläft: es gilt also, diese schlummernde Vielfalt als solche zunächst zu erkennen und zu fixieren. Ist sie erst einmal erwacht, wird sie augenblicklich und unbegrenzt die unterschiedlichsten Gestalten annehmen können – wie es die aufzählende Kette «stryge, nœud, feuillages» (Stryge, Knoten, Blattwerk) nahelegt. Dabei handelt es sich lediglich um für Mallarmé typische Beispiele all der Gestalten, die es immer aufs Neue erst zu verwirklichen gilt, ja die sich offenbaren, indem sie nach und nach erwachen.

Doch es ist kein Zufall, dass das Spitzengebilde der Dichtung in seinen Fäden nun genau diese Vielfalt schlummernder Gestalten erkennen lässt: Die Verdichtung des Knotens lässt an die Spitze als reines Gespinst in seiner Faktur denken und ist somit Metapher der syntaktischen Verknüpfung, die einen vielfältigen, doch intelligiblen Zusammenhang garantiert. Denn die Verständlichkeit ist essentiell: Gewährleistet wird sie allein durch die Syntax.4 Das Blattwerk weist auf ein Pflanzen-Motiv und damit metaphorisch auf die Präsenz rhetorischer Blumen wie der Metapher selbst, die einem literarischen Text ihr Gepräge geben. Auch die «feuillets», die papierenen Blätter des Buches klingen hier mit: bei diesem Blattwerk geht es also nicht um das «eigentliche und bäumedichte Gehölz», den «bois intrinsèque et dense des arbres».5 Vielmehr geht es darum, in das «subtile Papier des Buchbands» etwas wie «den Schrecken des Waldes oder den stummen, im Blattwerk zerstreuten Donner [einzuschließen]».6

Nicht einzugliedern ist diesem Zusammenhang jedoch der erstgenannte «stryge». Denn mit «stryge» wird ein vampirartiger Wiedergänger bezeichnet, ein nächtliches Fabelwesen von doppelter Gestalt mit Frauenkopf und Vogelkörper – also ein weiteres jener Mallarméschen Doppelwesen wie etwa Sirene, Nixe, Sylphe und Faun, die allesamt dem chimärenhaften Wesen der Literatur angehören;7 und die Literatur zeichnet sich gerade durch ihre Inexistenz aus. Als Metapher und spukhafter Wiedergänger verdoppelt Mallarmés Fabelwesen die Vorstellung von der im Spitzengebilde schlummernden Vielfalt, die uns zufällt, die also augenblicklich erwacht, nur um aufs Neue in den Schlaf zu tauchen.

Dabei gelingt es dem Spitzengebilde dank seiner durchsichtigen Faktur und seiner zahllosen Verflechtungen selbst entferntester Fäden, die virtuelle Vielfalt der in ihm selbst schlummernden ungeahnten Beziehungen erkennen zu lassen: es spiegelt sich selbst in dieser Vielfalt, die seine eigene ist; und es kommt zu sich, sobald es die schlummernde Vielfalt aus ihrem Schlaf erweckt. Nur aus diesem Spiel, dieser perpetuellen Bewegung ungewusster Beziehungen entsteht für Mallarmé etwas bedeutungsvolles Neues, das immer wieder etwas Anderes sein kann. Denn das einzige Tun, das uns zur Verfügung steht und zugleich höchste Geltung besitzt, besteht darin, Beziehungen zu erkennen und zu fixieren. Damit wird für Mallarmé das Spiel der Literatur selbst überhaupt erst in Bewegung gesetzt; und ein Gleiches gilt für das Spiel anderer Weisen menschlicher Expressivität. Dieses Spiel durchwirkt immer auch ihr Gebilde: jenes durchscheinende Spitzengebilde, das nichts anderes als eine immer wieder andere Konfiguration dunkler, bisweilen gespenstisch erscheinender Tintenzeichen ist, wie es auch Hugos Skizze vor Augen führt. Nichts anderes meint Schöpfung für Mallarmé: wenn also die Literatur ihrer unbestimmten Verpflichtung folgt, alles, was auch immer es sei, neu zu erschaffen, ohne dabei auf den Irrtum zu verfallen, Existenz für sich zu beanspruchen, über die sie nicht verfügt. Es ist die Natur, die stattfindet, ihr bleibt nichts hinzuzufügen:

La Nature a lieu, on n’y ajoutera pas; que des cités, les voies ferrées et plusieurs inventions formant notre matériel. Tout l’acte disponible, à jamais et seulement, reste de saisir les rapports, entre temps, rares ou multipliés.

Die Natur hat statt, man wird dem nichts hinzufügen; nur Städte, Schienenstränge und mehrere Erfindungen, worin unsere Ausrüstung besteht. Alles verfügbare Handeln, für immer und einzig, bleibt dies, zwischenzeitlich die Beziehungen, spärlich oder vielfältig, zu erfassen.8

Dem entspricht vielleicht auch die Geste Hugos gegenüber der Produktivität des Zufalls: die tastenden Graphismen scheinen dem Papier nicht so sehr etwas hinzuzufügen; vielmehr legen sie etwas frei: die einzelnen Striche entdecken die im Bild schlummernde Vielfalt und bieten sie dar, ja erwecken sie für einen Augenblick aus ihrem Schlaf.

Giulia Agostini
  1. Das Blatt findet sich im Ausstellungskatalog der Frankfurter Schirn: Turner, Hugo, Moreau. Entdeckung der Abstraktion, hg. von Raphael Rosenberg und Max Hollein, München 2007, 169, Abb. 54.

  2. Vgl. zum ‹potentiellen Bild› (dessen kunsttheoretische Genealogie von Leonardo da Vin­ci und Mantegna über Alexander Cozens und im 19. Jahrhundert von Justinus Kerner, William Turner, George Sand und Victor Hugo zu Gustave Moreau reicht) im kunsthistorischen Zusammenhang besonders folgende Arbeiten von Dario Gamboni: Fabrication of accidents. Factura and chance in nineteenth-century art, in: Res. Anthropology and Aesthetics 36 (1999), Sondernummer Factura, 205-226; sowie Potential Images. Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art, London, 2002. Vgl. außerdem August Strindberg: Du hasard dans la production artistique [erstmals 1894 in der Revue des Revues auf Französisch erschienen], Paris 1990.

  3. Das Blatt findet sich im Ausstellungskatalog der Frankfurter Schirn: Turner, Hugo, Moreau. Entdeckung der Abstraktion, hg. von Raphael Rosenberg und Max Hollein, München 2007, 169, Abb. 54.

  4. Stéphane Mallarmé: L’Action restreinte, in: Œuvres complètes II, éd. Bertrand Marchal, Paris 2003, 215. Die Übersetzung stammt aus: Stéphane Mallarmé: Beschränktes Handeln, in: Sämtliche Dichtungen, Französisch und Deutsch, mit einer Auswahl poetologischer Schriften. Übersetzung der Dichtungen von Carl Fischer, Übersetzung der Schriften von Rolf Stabel, München 32007, 289.

  5. «Quel pivot, j’entends, dans ces contrastes, à l’intelligibilité? il faut une garantie – La Syntaxe –». Le Mystère dans les Lettres, OC II, 232. In der Übersetzung: Was für ein Drehpunkt, wohlverstanden, in diesen Kontrasten, für die Verständlichkeit? Es bedarf einer Garantie – Die Syntax –‘. Das Mysterium in der Literatur, in: Sämtliche Dichtungen, 308. Die Metapher des «pivot», ‹Drehpunkt›, ‹Angelpunkt› hat mit dem «nœud» den verbindenden Punkt gemein, der sich jedoch in eine «voltige indéfinie de sens» öffnet, wie Jacques Derrida mit Blick auf den sich der «univocité» verschließenden «pivot» bemerkt hat. Vgl. La double séance, in: La dissémination, Paris 1972, 215-346, hier 338. Vgl. zur syn­tak­tischen oder vielmehr «dystaktischen» Versprengung beim späten Mallarmé: Quentin Meillas­soux: Le Nombre et la sirène, Paris 2011, 113f.

  6. Verskrise, in: Sämtliche Dichtungen, 284. Im Original: Crise de vers, OC II, 210.

  7. Ebd. Im Original: «[…] inclure au papier subtil du volume», «l’horreur de la forêt, ou le tonnerre muet épars au feuillage.» Crise de vers, OC II, 210.

  8. La Musique et les Lettres, OC II, 68. Musik und Literatur, in: Sämtliche Dichtungen, 275.