Signal kommt
TEMPO – das Wort, mehrfach prominent platziert gleich auf der ersten Doppelseite von László Moholy-Nagys Dynamik der Großstadt, ist zugleich Beschreibung wie Befehl; in der drei-, ja vierfachen Wiederholung steigert es sich zum unmissverständlichen Kommando: TEMPO TEMPO TEMPO TEMPO. Wie ein fortlaufendes Thema ziehen sich die fünf Großbuchstaben durch die insgesamt vierzehn Seiten der vermeintlichen «Skizze zu einem Filmmanuskript», mit der Moholy sein erstes Bauhausbuch Malerei, Photographie, Film von 1925 beschließt. Doch bereits die erste Doppelseite zeigt, um was für ein eigenwilliges, medial hybrides Gebilde es sich dabei handelt: ein wilder Sturm aus Bildern und Zeichen, Fotografien, Textschnipseln und grafischen Symbolen; hier eine technische Konstruktion, dort ein Tiger im Käfig, dazwischen Eisenbahnsignale und ein Ziegelaufzug, diverse Zahlen und Pfeile, alles mühsam zusammengehalten von einem ebenso strengen wie variablen Raster schwarzer Balken. Und immer wieder: TEMPO. Was wir sehen, ist weder Film noch Drehbuch oder Storyboard, sondern etwas ganz anderes. Ein «Typofoto» nannte Moholy es auch, doch der Neologismus erklärt wenig. Was also sehen wir hier, oder besser noch: Wie sollen wir es ansehen?
TEMPO ist der Schlüssel. Zunächst ganz buchstäblich als Inhaltsangabe: Im Zentrum von Dynamik der Großstadt steht die Beschleunigung der Wahrnehmung im urbanen Verkehr. Und TEMPO ist zugleich die unmissverständliche Lektüreanweisung, die in Varianten auch auf fast jeder der folgenden Doppelseiten wiederholt wird. Von diesen Anweisungen gilt in gesteigerter Form, was Walter Benjamin über die Bildbeschriftungen in den Illustrierten gesagt hat: Sie fungieren als «Direktiven», die dem zugleich lesenden wie schauenden Auge den Weg weisen sollen. Keinesfalls darf der Blick in «freischwebende[r] Kontemplation» innehalten, vielmehr muss er sich mobil machen, stets auf dem Sprung und unmittelbar reaktionsbereit.1 Nicht von ungefähr ist TEMPO daher durchgängig in serifenlosen Großbuchstaben gedruckt: Das Wort wird zur Marke, zum Signal, das noch aus dem fahrenden Auto oder dem Straßenbahnwagen auf einen Schlag erfassbar gewesen wäre.
Mehr als der Verkehr selbst ist dieses Sehen in Bewegung, um einen späteren Buchtitel Moholys zu zitieren, das eigentliche Thema von Dynamik der Großstadt. Der alltägliche Rhythmus der Metropole, das An- und Abschwellen der nach sozialen Klassen gestaffelten Pendlerströme, das Walter Ruttmanns Berlin – Die Sinfonie der Großstadt 1927, zwei Jahre nach Erscheinen von Malerei, Photographie, Film, so effektvoll in Szene setzen wird, interessiert ihn dagegen kaum. Tatsächlich könnten Ruttmanns Dokumentarfilm und Moholys praktisch unverfilmbares «Filmmanuskript» kaum gegensätzlicher sein: Wo Ruttmann filmische Szenen großstädtischen Lebens zu einem modellhaft durchkomponierten Tagesablauf montiert, arrangiert Moholy fotografisches Material aus den Archiven der Bildagenturen, Beispiele der eigenen visuellen Produktion und Werke bekannter Kollegen sowie diverse grafische Elemente, ohne dass sich eine übergreifende zeitliche oder räumliche Ordnung erkennen ließe. Auch wählt er immer wieder Motive, die sich bestenfalls mittelbar als typisch «großstädtisch» lesen lassen: Dem Tiger der Eröffnungsseiten, der an zoologische Gärten als Orte urbanen Vergnügens erinnern mag, gesellen sich auf den folgenden Seiten ein wütender Luchs und ein lächelnder Löwenkopf hinzu; Ansichten New Yorker Lichtreklamen oder der nächtlich illuminierten Berliner Friedrichstraße werden abgelöst von Boxern, Fußballspielern, Showgirls und Trapezkünstlerinnen, aber ebenso von Skifahrern auf verschneiten Pisten; das letzte Bild schließlich zeigt die Röntgenaufnahme eines Huhns.2
László Moholy-Nagy, Dynamik der Großstadt. Skizze zu einem Filmmanuskript, in: ders., Malerei, Fotografie, Film (Bauhausbücher 8), 2. Aufl., München 1927, S. 134.
S. 135.
Ein Bild der modernen Großstadt, und sei es noch so zersplittert und fragmentiert, bietet uns Moholy nicht, geschweige denn Einblicke in den sozialen Alltag einer Metropole wie Berlin. Was diese Bilder verbindet, ist nicht, was sie zeigen – es ist der Blick, den sie adressieren sollen: ein Blick der Signalverarbeitung.
Signale, im buchstäblichen Sinne, nämlich als Eisenbahnsignale, finden sich gleich auf der ersten Doppelseite von Dynamik der Großstadt, und zwar in doppelter Ausführung (siehe oben): Das Foto einer Gruppe von Signalmasten wird, gleich links daneben, durch eine Sequenz auf Balken und Kreise reduzierter visueller Kürzel gespiegelt und kommentiert: «Ganz klar – oben hoch – Bahnzeichen». Die visuelle Dopplung in materiellen Signalgeber und entkörperlichten Code trennt, was Moholys Montage anzugleichen sucht. Denn egal ob in fotografischer oder grafisch abstrahierter Form: Wer den Code beherrscht, für den ist das Signal stets unmissverständlich. Eisenbahnsignale bilden eine simple, hochgradig regulierte visuelle Sprache ohne Ambiguitäten und Ambivalenzen.3 Das Signal verlangt unmittelbare Reaktion, nicht zögernde Interpretation. Dynamik der Großstadt, so ließe sich behaupten, zielt in seiner Gänze darauf, heterogenes visuelles Material – Fotografien und Fotomontagen ebenso wie Buchstaben, Zahlen und grafische Symbole – in seinem Signalcharakter vorzuführen. In der Konstellation ganz unterschiedlicher Signale entsteht so ein Trainingsgelände für einen Blick, der beliebige visuelle Impulse in rascher Folge zu erfassen und verarbeiten imstande ist.
Dieser Trainingscharakter, das hat der Kunsthistoriker Frederic J. Schwartz gezeigt, verbindet Moholys Projekt mit der zeitgenössischen Psychotechnik, jener angewandten Humanwissenschaft, die in den 1920er Jahren vor allem in der Personalauslese an Bedeutung gewann.4 Neben Militär, Verwaltungs- und Fabrikarbeit standen dabei nicht zuletzt Verkehrsberufe, etwa im Straßenbahnwesen, im Fokus psychotechnischer Eignungsprüfungen. Denn der moderne Großstadtverkehr, so schreibt es der mit Moholy bekannte Fritz Giese in seiner populären Einführung in die Psychotechnik von 1928, erfordere «rasch[e] Entschlußfähigkeit und flotte[s] Reagieren auf äußere Signale».5 Entsprechend wurden die Proband:innen in psychotechnischen Versuchsanordnungen mit einer Fülle rasch wechselnder visueller wie akustischer Signale traktiert, auf die hin sie je unterschiedliche Schalter zu bedienen hatten, und an den dabei gemessenen Reaktionszeiten zeigte sich dann, wer eine «lange Leitung» hatte und mithin für das Führen etwa einer Straßenbahn ungeeignet war. Unter Laborbedingungen wurde so trainiert und getestet, was im großstädtischen Alltag überlebensnotwendig geworden war: eine mechanische Aufmerksamkeit, die im Kurzschluss zwischen Wahrnehmung und Handlung auf äußere Signale ohne Verzögerung reagiert.
Dabei kennzeichnet die psychotechnischen Versuchsaufbauten ein Hang zur elementaren Abstraktion. Schon der Begründer der Psychotechnik, Hugo Münsterberg, hatte sich strikt gegen jede naturalistische Simulation ausgesprochen – statt die äußere Wirklichkeit im Labor nachzuahmen, gelte es, «einen bestimmten isolierbaren Wesenszug dadurch zu bestimmen, daß er in elementarster Erscheinungsform unter künstlichen Bedingungen geprüft wird».6 Die angehenden Straßenbahnführer im psychotechnischen Versuchsstand steuerten daher keine Miniaturwägelchen durch künstliche Stadtlandschaften – vielmehr sollten sie auf vorbeilaufende Buchstabenreihen, farbige Ziffern, Lichtblitze, Klingel- oder Summtöne reagieren. Im Labor der Psychotechnik wurde die urbane Wirklichkeit zur abstrakten Signalwelt: Ob kreuzende Passant:innen, Autos oder Pferdekutschen, was zählte, war nicht die materielle Körperlichkeit und sinnlich erfahrbare Form der Phänomene, sondern der Reaktionsimpuls, den diese einforderten.
Das Phantasma des Signalwesens ist das Versprechen vermeintlich unmittelbarer Steuerung: Organisation von Bewegung mittels ebenso elementarer wie unmissverständlicher Codes. Dieses Phantasma war auch in den Avantgarden der 1920er Jahre im Umfeld von Konstruktivismus und Bauhaus weit verbreitet.7 Bereits Kasimir Malewitsch wollte seine suprematistische Malerei als Signalzeichen (russisch: semafor) verstanden wissen, das eine klare Richtung vorgibt,8 und der Bauhausschüler Werner Graeff stellte 1928 in der Zeitschrift De Stijl gar eine «Internationale Verkehrszeichensprache» vor, aufgebaut aus Quadrat, Kreis, Dreieck und den drei Primärfarben – die Reduktion aufs Elementare, so auch seine Überzeugung, sollte «Eindeutigkeit und instinktives Erfassen» garantieren.9
Moholy geht in Dynamik der Großstadt einen anderen Weg – er entwirft keine abstrakten Signale, die den urbanen Alltag noch effizienter steuern sollen. Vielmehr macht er die Wahrnehmung der bereits von vielfältigen Signalen durchsetzten urbanen Räume, die auf einen Blick und in Bewegung erfasst werden müssen, zum Modell einer neuen Form visueller Kommunikation, in der Schauen und Lesen verschmelzen und Wahrnehmen mit Handeln kurzgeschlossen wird: Texte, Fotos, Zeichen und Symbole, sie alle bekommen Signalcharakter. Und darin verfährt er letztlich ganz und gar unfilmisch: Indem er visuelle Signale weitgehend ungeachtet ihrer äußeren Form und ohne klare Hierarchie auf der Buchseite verteilt, stillstellt und simultan erfassbar macht, entwirft er nicht weniger als eine Vorform jener Bildlichkeit, die mittlerweile in digitalen Medien dominant geworden ist. Dynamik der Großstadt ist weniger Filmskript als vielmehr frühes Interface, eine visuelle Schaltfläche, die repräsentationale wie operative Elemente in einem zweidimensionalen Handlungsraum arrangiert und organisiert.10 Bilder existieren hier, wie auf den Screens und Displays unserer vernetzten Geräte, in einem Kontinuum mit beliebigen anderen Steuerungselementen und Medien der Information, seien es nun typografische Zeichen, Buchstaben, Zahlen und Pfeile – oder auch digitale Symbole, windows, icons, menus & pointers. Im Blick der Signalverarbeitung werden sie unterschiedslos zu Elementen einer visuellen Kommunikation, die auf spontane Antworten ohne Verzögerung abzielt. Click me, like me, share me. TEMPO TEMPO TEMPO.
Walter Benjamin: «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit» (1936, erste Fassung), in: ders., Gesammelte Schriften I.2, Frankfurt a.M. 1974/1991, S. 431–469, hier: S. 445.
Vollständig lässt sich ein Digitalisat von Malerei, Photographie, Film (an die Stelle des «Ph» setzte man ab der 2. Ausgabe das «F») unter folgender Internetadresse einsehen: https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/moholy_nagy1927/0128
«Railway signals are essentially communication devices, and railway signaling is essentially a simple but precise language. As with spoken language, the signal system has words, but only a few words, and they have clearly defined meanings.» Brian Solomon, Railroad Signaling, St. Paul 2003, S.14.
Frederic J. Schwartz: Blind Spots. Critical Theory and the History of Art in Twentieth Century Germany, Yale 2005, S. 66–72.
Fritz Giese: Psychotechnik (Reihe Jedermanns Bücherei), Breslau 1928, S. 34.
Hugo Münsterberg: Grundzüge der Psychotechnik, 3. Auflage, Leipzig 1928, S. 132. Zu Giese vgl. auch Bernd Stiegler: Der montierte Mensch. Eine Figur der Moderne, Paderborn 2016, S. 67–86.
Wir finden es zum Beispiel bei El Lissitzky, dessen um den Moskauer Ring verteilten Wolkenbügel den Passant:innen ihre Position im großstädtischen Verkehrsnetz hätten anzeigen sollen, wie beim Architekten Hannes Meyer, der den Verbindungsgang zwischen den Wohnblöcken der Bundesschule Bernau zur besseren Orientierung mit farbigen Lichtsignalen ausstattete.
Vgl. Simon Baier: Feld und Signal. Aporien der Malerei bei El’Lisickij und Kazimir Malevič, München 2021, S.12f.
Werner Graeff: «Wir wollen nicht länger Analphabeten sein», in: De Stijl, Jg. VII, Nr. 79-84, S. 98–100, hier: S. 100, vgl. dazu auch Daniela Stöppel: Visuelle Zeichensysteme der Avantgarden 1910 bis 1950. Verkehrszeichen, Farbleitsysteme, Piktogramme, München 2014, S. 249–254.
Die Informationsdesignerin Muriel Cooper hat bereits in den 1980er Jahren Moholy-Nagys Dynamik der Großstadt als Vorbild des Interface-Designs zitiert, vgl. Muriel Cooper: «Computers and Design», Design Quarterly, No. 142 (1989), S. 4-31, hier: S. 14.