ServiervorschlagEin Schnappschuss zu Gernot Seeligers Arbeit «Danke 03»

Unweit meines Gymnasiums befand sich die kleinste REWE-Filiale Deutschlands. Die kurzen Pausen waren gerade lang genug, um sich dort schnell mit diversen koffeinhaltigen Waren einzudecken: Starbucks Frappuccino oder Starbucks Caramel Macchiato aus dem Kühlregal, Club Mate, Club Mate Granat (mit Granatapfelgeschmack) und Pocket Coffee – diese kleinen, mit Kaffee gefüllten Pralinen, deren Etikett noch im Stil der sechziger Jahre gehalten ist, orange und braun mit einer sich in die dunkle Schokolade ergießenden Espressotasse: Viva Italia. Diese flüssigen und festen Energieladungen konsumierte man nach dem Einkauf, um die nächste Schulstunde wach zu überstehen – denn meistens litt man unter Schlafmangel und einem längst chronisch gewordenen Kater.

In dieser kleinsten REWE-Filiale Deutschlands machten wir uns aber nicht nur mit Koffein, sondern auch mit Techniken des Ladendiebstahls vertraut, denn natürlich reichte das Taschengeld nie für all die begehrten Produkte. Eine Mitschülerin, die dort nach der Schule an der Kasse jobbte, versorgte uns mit der Information, dass die Überwachungskameras nur Attrappen waren. Trotzdem bedurfte der illegale Akt eines gewissen Feingefühls. Man musste kontraintuitiv arbeiten: Wir fanden bald heraus, dass es viel effektiver war, die Produkte, sogar Tiefkühlpizzen waren dabei, ganz selbstverständlich und höflich lächelnd an den Kassiererinnen vorbeizutragen, statt sie unauffällig in die Jacken-Innentaschen zu stecken. Klauen schien so einfach, zumindest wenn man das notwendige, an Skrupellosigkeit grenzende, Selbstvertrauen hatte und bald holten wir uns, anstelle der billigen Ja!-Produkte, die wir anfangs hatten mitgehen lassen (und deren unverändertes Layout ich bis heute virtuos finde) nur noch Lebensmittel aus der REWE Feine Welt-Reihe: Mangolassi mit Rosenwasser, Cashewkerne mit Trüffel, abgepackte Pflaumen im Speckmantel.

Wie das Etikett der Feine Welt-Speckpflaumen mit seiner goldenen Schrift auf cremefarbenen Untergrund von der Speckpflaume ablenkte – und der Speck dann von der Pflaume selbst – so dauert es auch einen Moment, bis einem auffällt, worum es sich bei dem auf der Fotografie Danke 03 Abgebildeten handelt. Man ist abgelenkt von den Stimuli, die das eigentliche Motiv umgeben: eine goldschimmernde Spiegelung auf einer Pfütze, deren Wasser durch die in sie hineinfallenden Tropfen in Bewegung ist. Ruhend in der Regenpfütze ein Geschenkkorb, dessen Plastikfolie von einer rosafarbenen Schleife zusammengehalten wird. In der eigentlich transparenten Folie fangen sich die Tropfen und verschleiern die Sicht nach Innen. Die Geschenke selbst sind auf den ersten Blick also unauffällig – man weiß zwar, dass es sie gibt, aber sie treten nicht in Erscheinung, zumindest nicht in ihrer jeweiligen spezifischen Beschaffenheit, sondern nur in ihrer Funktion, ein austauschbares ‹Geschenk› zu sein. Es handelt sich, so wird einem intuitiv klar, nicht um eine liebevolle Selektion von Geschenkgütern, sondern um eine tatsächlich austauschbare Konstellation von Waren, wahrscheinlich ein Readymade, vorsortiert von einem Großkonzern wie REWE. Das Einzige, was die Produkte zu verbinden scheint, ist ihre Eigenschaft, als ‹Geschenk› fungieren zu können, das heißt einen gewissen Feinkost-Anspruch zu erfüllen, so wie es die Feine Welt-Produkte taten.

Ähnlich offensichtlich inszeniert ist aber auch die den Geschenkkorb umgebende Pfütze. Sie nämlich scheint sich nicht aus den Tropfen ergeben zu haben – es ist deutlich, dass es sich um eine Requisite im Scheinwerferlicht handelt. Das goldschimmernde Flutlicht, das die Szene umfängt, hält man, der Logik der Bildkomposition folgend, zuerst für eine verkehrsinduzierte Lichtquelle, einen Autoscheinwerfer oder eine Ampel, die gerade zufällig auf Gelb steht. Schnell erkennt man aber, dass es sich um eine vom Fotografen künstlich hergestellte, statische und durchaus festlich anmutende Beleuchtung handelt – ein buchstäblich theatrales Spotlight. Der Fotograf, der jenen Schein-Schnappschuss inszeniert hat, ist Gernot Seeliger. Und die Nonchalance, mit der er diese Künstlichkeit, diese Inszenierung, nicht zu verstecken versucht, sondern sie ausstellt, sie offensichtlich macht, erinnert mich an die skrupellose Selbstverständlichkeit, mit der meine Freundinnen und ich damals freundlich lächelnd die unbezahlten Tiefkühlpizzen an den Kassiererinnen vorbeitrugen. Die selbstbewusste Unbekümmertheit machte diese Handlung damals zu mehr als nur einem Regelbruch. Im Gegenteil: Fast ging es dabei um die Einführung neuer, anderer Regeln, die Möglichkeitsräume schaffen. Regeln, die noch keine Permanenz hatten und deshalb erst einmal leichte, wohlige Verwirrung auslösten. Man nimmt sich, was man nicht hat – und es schmeckt noch viel besser, einfach deshalb, weil man es sich (unerlaubterweise, aber scheinbar unbedarfterweise) genommen hat. Denn wer mag denn schon, in Wirklichkeit, Pflaumen im Speckmantel?

Auch Gernot Seeligers Foto versetzt einen in einen Zustand wohliger Verwirrung. Die Überschreitung der Kategorien ‹Schnappschuss› und ‹Inszenierung›, aber auch ‹Sichtbarkeit› und ‹Verwässerung›, hat eine augenzwinkernde Eleganz – die Überkorrektheit selbst ist der Regelbruch. Das Bild erzeugt Lust. Nicht darauf, die im Geschenkkorb enthaltenen Produkte zu konsumieren, sondern darauf, Geschenkkörbe theatral in Pfützen zu platzieren und ein Foto zu machen. Es ist eine Anti-Werbung: Man will die Produkte nicht kaufen, man will sie klauen und man will sie nicht genießerisch zu sich nehmen, sondern sie genießerisch in einem Kunstwerk verschwenden.

In gewisser Weise folgt REWE selbst, indem es die Reihe mit dem naiv (und provinziell) klingenden Titel Feine Welt einführt, einer ähnlichen Logik: Sie nehmen sich das Recht, einen Luxus zu behaupten, dem die Qualität der Produkte nicht ansatzweise gerecht wird. Dem aber dennoch nicht nur wir unbedarfte Schülerinnen auf den Leim gingen. Fünf Stück klebrige Backpflaumen, gefüllt mit noch halb gefrorenem Ziegenfrischkäse und umhüllt von faserigem Serrano-Schinken – das war ganz eindeutig gute sechs Euro wert! Jene Feine Welt-Reihe nämlich hatte immer besonders ambitioniert komponierte Serviervorschläge, diejenigen Abbildungen, die sich auf der Verpackung von Lebensmitteln befinden und auf der die Lebensmittel so arrangiert (oder montiert) werden, dass die Abbildung mehr zeigt als nur sie selbst. Zusätzlich zu dem Inhalt der Verpackung sind weitere zum Inhalt passende Zutaten zu sehen oder auch Gegenstände, die dazu da sind, sie in ihrer angerichteten Form zu zeigen – Geschirr zum Beispiel. Damit es sich also rechtlich nicht um eine Täuschung handelt (die Oberfläche verspricht mehr, als sich unter ihr verbirgt – ähnlich wie es bei Makeup der Fall ist), ist am unteren Rand der Abbildung das Wort «Serviervorschlag» vermerkt.

Gernot Seeligers Fotografien spielen mit der Täuschung durch die Oberfläche, nur dass diese nicht am Bildrand aufgelöst wird. Die Täuschung, die Lücke zwischen dem Versprechen der Hülle und ihrem Inneren, steht im Fokus der Arbeit. Die Hüllenhaftigkeit löst, trotzig, das Versprechen ein. Der Künstler macht sich selbst entschieden zum Makeup-Artist, zum Foodstylisten seines Motives. Dass Danke 03 also, wie der nummerierte Titel schon sagt, kein Schnappschuss ist, sondern das Resultat einer ausführlichen Kompositionsarbeit bildet, ist deutlich. Ein Schnappschuss ist dagegen dieser Text – und er ist auch ein Schnellschuss: Thesen und Assoziationen, lose verbunden. Auf Gernot Seeligers Schuss fällt mein Gegenschuss. Auf das Blitzlicht, das den Korb im Regen einfängt, reagiere ich mit Kurzschlussreaktionen, mit gedankenblitzartig auftauchenden Erinnerungen aus der kleinsten REWE-Filiale Deutschlands. Der Diebstahl war nämlich nicht das Einzige, was wir den armen Mitarbeiterinnen des winzigen Supermarktes antaten. Manchmal verbrachten wir Stunden damit, die Waren zu vertauschen. Heimlich, als wäre es etwas Illegales, schmuggelten wir eine Salami in die Bananenablage, eine Packung Toastbrot ins Spirituosenregal oder eine Dose Erbsen in das Eisfach, in dem eigentlich die Ben-and-Jerrys-Packungen zuhause waren. Stunden verbrachten wir manchmal damit, subtil die Ordnung der Dinge ins Zweifelhafte zu ziehen. Die Waren wurden durch das harmlose Spiel der Neuplatzierung in ihrer Funktion in Frage gestellt – sie erschienen dadurch plötzlich als Dinge für sich. Ihre Transformation in etwas Eigenständiges führte dazu, dass die «sich selbst fremd gemachten» Produkte und ihre Etiketten plötzlich in ihrer Materialität in Erscheinung traten – die Erbsen grün und rund auf der Verpackung dargestellt («Serviervorschlag»), die Salami ähnlich geformt wie die Banane, das Toastbrot ein weiches Schaumstoffkissen. Dinge erinnerten plötzlich an andere Dinge oder wurden animiert: die Erbsen als Eindringling im Terrain von Ben und Jerry, erbitterte Feinde. Die Banane und die Salami, in Löffelchenstellung beieinander liegend. Die Objekte bekamen durch unsere Beschäftigungsstrategie für einen kurzen Moment Subjektstatus – ein bisschen so, wie wenn man auf einem LSD-Trip ist: Man hört förmlich die kleinen grün- und rund – gezüchteten Kugeln vor Kälte vielstimmig um Hilfe schreien, «wir wollen nicht gegessen werden», «wir wollen nicht sterben».

Natürlich weiß man, dass ein deutscher Supermarkt im einundzwanzigsten Jahrhundert ein höchst artifizieller Ort ist. Hier werden Verbindungen her- und zur Schau gestellt, die aus der ökonomischen und politischen Bedeutung der dargebotenen Warenwelt hervorgehen und sie zugleich verfremden. Trotzdem: Die persönlichen Einkaufsabläufe sind eingespielt und die vielfach transnationalen und transmateriellen, die chemischen und repräsentativen Verbindungen, die in den Objekten gespeichert sind, ihre Aktualität und Relevanz, wird unsichtbar – zumindest während der Minuten, die wir, wie selbstverständlich, in den unangenehm beleuchteten Gängen verbringen. Unsere infantile «Finde den Fehler»-Spielerei enttarnte damals also auch die falsche Natur des Erbsen- und Salami Lebensraumes ‹Supermarkt›. «Finde den Fehler» hieß hier auch: «Finde den Fehler im Fehler» – das Künstliche im ohnehin schon Künstlichen. Wenn man genau hinschaut, kann man auch in Gernot Seeligers Geschenkkorb einzelne Produkte erkennen: Spargel aus dem Glas, eine Halbliter-Flasche weiß eingeschweißten Billigcrémants und ein Glas «Waldbeeren»-Marmelade der Marke Landliebe. Die Brands sind zwar generisch, aber eindeutig deutsch. Es ist eine seltsame Konstellation von Lebensmitteln. Alle weisen auf die Idee des Luxus hin, verraten aber in ihrer Bemühtheit eine Unzulänglichkeit, etwas Prekäres. Das Trying too hard verrät den Mangel. In der Fotografie selbst vollzieht sich zugleich die entgegengesetzte Strategie: Das Trying too hard vermittelt hier, indem es nicht versteckt wird, indem kein Authentizitätsanspruch erhoben wird, eine humorvolle Unangestrengtheit. Fake und Real sind schon längst keine zutreffenden Kategorien mehr. Danke 03 vermittelt ‹echte Fakeness› ebenso wie die Idee der Feinen Welt (bzw. des «Serviervorschlages») Echtheit suggeriert – und dabei hochgradig artifiziell ist. Die Strategie des ‹Real Fakes› ist hier also die des uneitlen ‹Sich-Mühe-Gebens› – die Arbeit an der Oberfläche stellt eine Tiefe her, so wie in der Feinen Welt eine nur suggerierte Tiefe offensichtlich wird, oberflächlich, durchschaubar. Danke 03 ist rätselhaft: Das Geheimnis liegt in der Offensichtlichkeit, die Transparenz verschleiert sich selbst, so wie die eigentlich transparente Plastikfolie des Geschenkkorbes durch den Regen ihre Durchsichtigkeit verliert.

Wie alle verlassenen oder verunglückten Objekte weist jenes billige Luxusarrangement (von dem man nicht weiß, ob es von einer Supermarktmitarbeiterin oder vom Künstler selbst zusammengestellt wurde) auch auf das Unglück der abwesenden Besitzerin hin. In diesem Fall sind das gleich zwei: Die Schenkende und die Beschenkte. Natürlich ist die Geste des Schenkens selbst schon eine brutale – das englische ‹Gift› ist ebenso giftig wie sein deutscher ‹Falscher Freund›. Die jeweilige Beschenkte wird in ihrem Beschenkt-Werden immer auch kontrolliert, autoritär in die Rolle der Dankbarkeit gezwungen und damit unterworfen. Das Wort «Danke» hat für mich immer eine religiöse Konnotation, automatisch denke ich sofort an das Kirchenlied «Danke für jeden neuen Morgen». Auch die Idee, dass man sich (bei Gott) dafür bedanken muss, morgens (verkatert) aufzuwachen- und zur Arbeit gehen zu müssen, um sich abends REWEs Feine Welt-Produkte gönnen zu können, ist eine durchaus Gewaltvolle. Sie entbehrt ebenjener Nonchalance, ebenjenem augenzwinkernd-selbstverständlichen Regelbruch, die Gernot Seeligers Fotografie darstellt: «Bitteschön» sagt diese nämlich schamlos zu ihren Betrachterinnen – ob man sie, in ihrer unheimlichen Too-much-ness will oder nicht, spielt keine Rolle. Sie drängt sich dreist auf, ohne dabei etwas von einem zu wollen: «Hier bin ich». Auf ein «Danke» wartet sie nicht.

Olga Hohmann