Serios‘ Thoughtography

Ebenso abrupt wie rasant beginnt ein Fernsehbeitrag der BBC aus dem Jahr 1968, in dem ein etwas sonderbar wirkender Mann um die Vierzig vorgestellt wird.1 In rascher Folge und aus unterschiedlichen Blickwinkeln ist zu sehen, wie er sich mit wildem Blick immer wieder ruckartig auf das Objektiv einer Polaroid Kamera zubewegt. Dabei wirft er dem Apparat die Arme entgegen und schnippt wiederholt mit den Fingern, doch erfolgt auf dem Höhepunkt dieser motorischen Entladung jeweils ein harter Bildschnitt. Erneut beginnt der Mann daraufhin mit dem Aufbau seiner Konzentration, um einmal mehr zum Sprung anzusetzen. Es ist diese kurze, relativ ruhige Phase der inneren Sammlung und körperlichen Ausrichtung auf den fotografischen Apparat, den das obige Einzelbild aus der Sendung zeigt (Abb. 1). Als der Mann sich schließlich ein siebtes Mal auf so impulsive Weise der Linse nähert, überdeckt er mit seiner Hand schließlich das Bildfeld der filmenden Fernsehkamera, womit die etwa 20-sekündige Eingangssequenz endet und die Zuschauer ratlos mit der Frage zurückgelassen werden, was es mit dem eben Gesehenen auf sich haben mag.


Aufklärung über die Vorgänge in der Wissenschaftssendung BBC Horizon gibt nun ein Voice-over, das mit dem Verklingen der Musik einsetzt. Während ein chaotisches Treiben innerhalb einer Gruppe von etwa acht Männern zu sehen ist, wird erklärt, dass die zuvor gezeigten Demonstrationen des Mannes – sein Name ist Ted Serios – nach einem immer gleichen Muster abliefen. Auch sei dabei stets der Psychiater Dr. Jule Eisenbud zugegen – der in diesem Moment eingeblendet wird. Er habe als Erster Serios’ verblüffende Fähigkeit entdeckt, Gedankenbilder mittels mentaler Energie auf fotografischen Film zu belichten, wobei dieser in der überwiegenden Zahl seiner Vorführungen Kameras und Filme aus dem Angebot der Polaroid Sofortbildtechnik benutzte.


Tatsächlich nahm der Vorgang dieser so genannten Thoughtography, anders als in der für BBC Horizon gekürzten Sequenz, meist mehrere, teilweise ermüdende Stunden in Anspruch, während derer sich Serios unter der Beobachtung regelmäßig wechselnder Zeugen in einen tranceähnlichen Zustand zu bringen suchte. Bis dieser sich einstellte, bedurfte es mitunter großer Mengen Alkohol und des Zuspruchs durch den Psychiater Eisenbud, der Serios unermüdlich dazu antrieb, sich um das Gelingen einer Gedankenfotografie zu bemühen. Hatte dieser den hierzu erforderlichen «hitzigen» [«hot»] Zustand erreicht, bediente er sich eines selbstgebastelten kleinen Zylinders aus Pappe und Kunststoff, den er als «Gismo» bezeichnete, hielt ihn in die Nähe des Kameraobjektivs und vollzog mit geringen Variationen die von der BBC aufgezeichneten Handlungen und impulsiven Bewegungen, mit denen er ein Bild auf den Film zu übertragen suchte. Das Gismo diente ihm eigener Aussage nach als eine Art Talisman, der zugleich Licht am Eintritt in die Sofortbildkamera hinderte und verhütete, dass Serios die Kameraöffnung mit seinen Händen vollständig verdeckte. Offensichtlich traten seine mentalen Energien also in der Form unbekannter Wellen oder Strahlen durch die Kameraöffnung ein, die opake Festkörper nicht zu durchdringen vermochten.


In solchen Sitzungen waren bereits vor der Aufzeichnung der BBC-Sendung über Jahre unzählige Polaroid-Filmrollen belichtet worden, wobei die Resultate stark schwankten.2 Gelungene Thoughtographs stellten dabei die zahlenmäßig kleinste Gruppe dar, deren Qualität wiederum von recht deutlich zu erkennenden Abbildungen existierender Gegenstände bis hin zu wenig differenzierten Aufnahmen reichten, die ein mühevolles Hineinsehen von Inhalten erforderten. So etwa in der Beschreibung der ersten Sitzung Eisenbuds mit dem paranormal Begabten, während der sich erst nach zahlreichen missglückten Versuchen ein verheißungsvolles Resultat einstellte: «For the first time, now, something really interesting emerged, but no one could quite make out what it was […] [so the picture] took its place with others on the drying shelf. Suddenly came a yell from the kitchenette, ‹Hey, this is a building; can’t you see? – Look at it this way …› […] all at once it became apparent to all of us that it was indeed a building. But I saw more. […] Ted’s picture was a beautiful match for one of the clock towers [of Westminster Abbey]» (Abb. 2).3

Dies alles erscheint uns vom heutigen Standpunkt recht wunderlich – nicht verwundern dürfte hingegen, dass Serios und Eisenbud mit diesen Gedanken-Bildern und ihrer Erzeugung in Aufführungen sowie mit deren medialer Verbreitung Aufsehen zu erregen wussten. Wie stets im Fall derartiger vermeintlich übernatürlicher oder paranormaler Phänomene spalteten sich die Rezipienten prompt in zwei Lager: das eine schenkte dem Duo Glauben und argumentierte beglückt für das Wunder und die Rechtschaffenheit der beiden. Das andere Lager hingegen ließ nichts unversucht, den Schwindel zu entlarven, der sich hinter all dem Theater verbarg. Zahllose Seiten wurden für und wider Serios’ Thoughtography gefüllt, doch ließe sich grundsätzlicher fragen, warum das Format dieser Gedankenfotografie-Sitzungen sich überhaupt in den USA der 1960er-Jahre im Zwischenraum verschiedener kultureller Erscheinungen und Sphären ansiedelte. Grundsätzlich darf man vermuten, dass die Art und Weise, wie hier Gedanken-Polaroids aufgenommen wurden, einerseits populäre Vorstellungen von okkulten Praktiken einer spiritistischen Fotografie, bzw. der Gedanken- und Fluidalfotografie aufnahm und aktualisierte, wie sie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts noch etwa bis in die Zwischenkriegszeit praktiziert wurden;4 Wie die obige Abbildung aus der BBC-Dokumentation zeigt, kommt andererseits aber auch der Standardisierung eines spezifischen Bewegungsablaufs, den Jakob Birken in seinem Beitrag zum Computerspiel Street Fighter auf diesem Blog bereits als Move bzw. Signature Move beschrieben hat und als «in der modernen Populärkultur seit jeher angelegt» sieht, eine bedeutsame Rolle zu. Denn die grundsätzlich immer gleiche – wenn auch im Einzelfall immer leicht variierende – Ausführung dieser sprunghaften Handlungen wurde zu einem «Markenzeichen» von Serios, das, wie Birken es treffend formuliert, «dramatische Action weniger zu beschränken als zu destillieren»5 erlaubt.


Solche persönlichen Markenzeichen nahmen in der Populärkultur des 20. Jahrhunderts eine buchstäblich signifikante Funktion ein: Charakteristische Merkmale – der Schönheitsfleck der Monroe – oder Bewegungen – Elvis Presleys Hüftschwung – erlaubten es, das Individuum in seiner Einzigartigkeit und mit seinen spezifischen Fähigkeiten aus der Masse von Berühmtheiten des populären Personen- und Starkults herauszustellen. Die 1960er-Jahre können als Hochzeit der Verehrung solcher typischer äußerlicher Einzigartigkeiten, Verhaltens- und Bewegungsweisen gelten, bezieht man zudem deren zur gleichen Zeit neugewonnene Bedeutung in den Bildenden Künsten in die Betrachtung ein: mit dem Auftreten von konzeptuellen, performativen Kunstformen einerseits und der gestischen Malerei andererseits rückten produktionsästhetische Aspekte des Kunstschaffens ins Zentrum der Aufmerksamkeit, deren standardisierte Bewegungsabläufe und typische malerische Gesten eine dem resultierenden Werk mindestens ebenbürtige Rolle einnahmen.


Im Fall von Serios scheint also ein genauerer Blick auf die in den 1960er-Jahren sich herausbildende Performance-Kunst lohnenswert, in der sich der bildende Künstler selbst zum Medium der künstlerischen Arbeit machte. Bereits diese knappe Umschreibung dessen, was die vielfältigen Interpretationen des «streitbaren Konzeptes»6 von Performance eint, diese Einswerdung von Künstler und Medium, verweist auf eine strukturelle Ähnlichkeit, die sich zwischen Serios’ Aufführungen der Gedankenfotografie und der sich zeitgleich in den USA aus Happening und Fluxus entwickelnden Form der Aktionskunst aufdrängt.7 Verlagert man die Aufmerksamkeit von den entstandenen Thoughtographs auf die Sitzungen als Aufführungen, in denen ein Künstler als Person zum Teil seines Werkes wird, so lassen sich Ted Serios’ Demonstrationen von einem Standpunkt aus betrachten, der ohne die übliche Befragung des Phänomens auf Wahrheit oder Täuschung, Wunder oder Betrug auskommt. Als Performances verstanden, bieten sich die Vorgänge als ein komplexes Zusammenspiel von Hauptakteuren mit peripheren Zuschauern dar, die als Zeugen fungieren: Serios und Eisenbud wirken in ihren Rollen als Gegensatz zwischen überbordender Kreativität und deren präziser Überwachung ebenso zusammen wie einander produktiv entgegen; das Publikum wird dabei zu einem bezeugenden Gegenüber der Abläufe, die zwischen langen Phasen der Ereignislosigkeit und kurzen Zeiträumen extremer Anspannung, sowie zwischen archaischem Ritual, Performance und wissenschaftlichem Experiment oszillierten:8 Serios’ sichtbar ausgemergelter Körper, seine Tätigkeit des Projizierens, also des wortwörtlichen ‹nach vorne Werfens› von Gedankenbildern in einen analogen motorischen Ablauf des Auf-die-Kamera-Zuschnellens, stand dabei den nüchternen Zeugen, der Anfertigung von Kontrollbildern, sowie der Überprüfung der Apparate und der Wiederholbarkeit des Vorgangs durch Eisenbud gegenüber. Eng mit diesen Abläufen verflochten ist die Sofortbildtechnik: Diese ist nicht bloßes Requisit, sondern ermöglicht durch ihre technischen Abläufe die Vorgänge erst, indem sie den Anlass, sowie das Ziel und damit den Endpunkt der Aufführung liefert, während ihre Erzeugnisse in Form von Polaroids in die nachträgliche Dokumentation der Vorgänge eingehen, wie in der Performance-Kunst üblich.

Auch bei einem Vergleich der Aufnahmen von Ted Serios‘ Aktionen mit einer von Hans Namuths Fotografien, die Jackson Pollock bei seiner Arbeit an einem der für ihn typischen Drip Paintings zeigt (Abb. 3), erweisen sich erneut standardisierte Bewegungsabläufe beider als Kern des jeweiligen Geschehens: Denn der Prozess der Erzeugung eines Bildes ereignet sich in beiden Fällen in einer gesteigerten körperlichen und geistigen Interaktion zwischen dem Subjekt und den Materialien, die später das Bild konstituieren – Farbe und Leinwand bei Pollock, Sofortbildfilm bei Serios – während die herkömmlicherweise vermittelnden Werkzeuge – Pinsel und Kamera – eine vergleichsweise untergeordnete Funktion einnehmen.9 Diese Form des Schaffens, die sich in erster Linie durch ein konkretes körperliches Handeln des Individuums definiert, implizierte zugleich, dass Pollock und Serios wiederum selbst zum Gegenstand der Darstellung in anderen Medien werden mussten. Dies zeigen in gleichem Maße die Fotografien und der Film von Hans Namuth, Jackson Pollock 51, die seine Arbeitsweise sichtbar machen, wie auch Filme und Fotografien, die Serios bei der Herstellung der Polaroids abbilden. Vergleicht man etwa die Sequenz aus der BBC-Wissenschaftssendung Horizon mit den Aufnahmen, die Namuth für seinen Film verwendete, wird deutlich, dass die beiden charismatischen Figuren durch ihre jeweilige Bildproduktion ein ähnliches Interesse an der ergänzenden Vermittlung ihres physischen Handelns herausforderten. Der untrennbare Zusammenhang der kontrollierten Körperlichkeit des Aufbringens der Farbe und der resultierenden dynamischen Wirkung des Bildes bei Pollock wird im zeitlichen Verlauf der Entstehung für den Zuschauer in einer Weise sichtbar, ohne dabei vollständig nachvollziehbar zu werden, die Serios’ dokumentierten gedankenfotografischen Versuchen ähnelt.10


Ebenso wie die Oberfläche und rhythmische Komposition der Drip Paintings, deren unkonventionelle Herstellungsweise erahnen und zu sehen wünschen lässt, schafft auch die rätselhafte Anmutung von Serios’ undeutlichen Sofortbildern ein Bedürfnis nach der Demonstration des Prozesses, durch den solche Aufnahmen entstehen. Was in Namuths Film und der abgebildeten Fotografie von Pollocks Arbeitsprozess sichtbar wird, ähnelt der im BBC-Vorspann sich wiederholenden dynamischen Bewegung Serios‘: in beiden Fällen liegt ein Prinzip des Auf-die-Bildfläche-Bringens einer Idee zugrunde, ein In-die-Welt-Schleudern eines Gedankens, der sich quasi aus dem Nichts materialisiert. Die an sich sehr verschiedenen Tätigkeiten der beiden Männer können so als Verkörperungen eines Ideals von Kreativität im engeren Sinne einer buchstäblichen – und seit jeher mythisch überhöhten – Schöpfungskraft gelten, die sich zugleich demütig gibt: Die Position des Künstlers sei bescheiden, er sei im Wesentlichen ein Kanal, so ein Piet Mondrian zugeschriebener Ausspruch, der diesen Aspekt auf den Punkt bringt. Gerade durch diese Ambivalenz zwischen aktivem Schaffen und passivem Empfangen wird das spezifische Bildmedium zum Vehikel einer umfassenden Selbstdarstellung des jeweiligen Protagonisten, in der sich die staunenswerte körperlich-geistige Anstrengung scheinbar unvermittelt in ihre materielle Manifestation entlädt.

Dennis Jelonnek
  1. BBC Horizon: The World of Ted Serios, GB 1968, TC 00:01–00:22.

  2. Siehe hierzu Romeo Grünfelder (Hg.): Ted Serios – Serien, Hamburg 2016.

  3. Jule Eisenbud: The World of Ted Serios [Auszüge aus der gleichnamigen Buchpublikation], in: Fate (April 1967), S. 30–53, hier S. 37.

  4. Siehe hierzu Peter Geimer: Bilder aus Versehen. Eine Geschichte fotografischer Erscheinungen, Hamburg 2010, S. 135-174.

  5. https://schlaufen-verlag.de/blog/hadoken

  6. Der Begriff der Streitbarkeit leitet sich von der Beschreibung der Performance als eines «contested concept» ab. Vgl. hierzu Marvin Carlson: Performance – a critical introduction, New York / London 2004, S. 1.

  7. Vgl. hierzu Elisabeth Jappe: Performance. Ritual. Prozeß. Handbuch der Aktionskunst in Europa, München/New York 1993, S. 19.

  8. «Parallelen zwischen Performance und Ritus geben sich des Öfteren zu erkennen. Ebenso erhält die Vorstellung vom Performance-Künstler als modernem Schamanen immer wieder neue Nahrung. […] Viele Performance-Künstler schöpfen gern aus solchen Quellen, lassen sich von der Kraft und der Ästhetik der alten religiösen und gesellschaftlichen Riten, von der wortlosen, physischen und spirituellen Gewalt der Schamanen inspirieren. […] Die Übereinkunft zwischen Performance und Ritus liegt darin, daß die Handlungen keinen direkten praktischen Sinn haben: Sie sind Hinweise auf eine umfassendere Bedeutung. Der grundlegende Unterschied: die Riten sind in ihrer Form festgelegt, höchstens kleine, allmähliche Änderungen oder Anpassungen sind erlaubt. Vom Performance-Künstler hingegen wird erwartet, daß er jeder Handlung eine neue, abgewandelte Form gibt.» Jappe 1993, S. 9–10.

  9. «At a certain moment the canvas began to appear to one American painter after another as an arena in which to act – rather than as a space in which to reproduce, re-design, analyze or ‹express› an object, actual or imagined. What was to go on the canvas was not a picture but an event.» Harold Rosenberg: The American Action Painters, in: ARTnews (Januar 1952), S. 22–23, 48–50, hier, S. 22.

  10. Hans Namuth: Jackson Pollock 51, USA 1951, TC: 3:05–4:05.