PrositAus »Bilder knistern«

Fotos werden gemacht, um einen Augenblick für die Nachwelt festzuhalten. Die Nachwelt ist jedoch keine genaue Adresse, und der fotografierte Augenblick hat keine eindeutige Botschaft. Reißt der Erzählfaden ab, sagt also niemand mehr das ist der, die oder das, verlieren die meisten Fotos auf einen Schlag ihren Inhalt – oder aber sie entwickeln, nachdem der biografische Dampf abgelassen ist, aus zumeist unerfindlichen Gründen ein Eigenleben und füllen sich auf mit allem, was die Neugier an sie heranträgt. Dann fangen sie an zu knistern und irgendwie von sich selber zu handeln, also nicht mehr nur bloß von dem, was drauf ist, sondern immer auch von der Tatsache, dass sie Fotografien sind.


Das beschwipste Damenkränzchen bietet dem Kameraauge – und damit uns – ein Panoptikum aus der Fassung geratener beziehungsweise dagegen ankämpfender Blicke. Einige der acht Frauen haben direktestmöglichen Kontakt aufgenommen mit dem Fotoapparat; mit ihren aufgerissenen Augen scheinen sie sich förmlich hineinbohren zu wollen in eine Zukunft, aus der dann rückwirkend auf das Glück dieses Augenblicks geschlossen werden soll; sie tun alles, um die likörgeschwängerte, von der Anwesenheit einer Kamera natürlich noch zusätzlich verstärkte Stimmung so unmittelbar wie möglich an die Nachwelt zu übertragen. Anderen gelingt es, einigermaßen Contenance zu wahren und sich irgendwie auf sich selber zu besinnen – oder zumindest so zu tun, als sei Fotografiertwerden mit der Pflicht zur Zurückhaltung verbunden.

Insbesondere die sich mit einer blumengefüllten Vase gegen alle Albernheiten verwahren wollende Frau hinten links scheint mit ausgekugelten Augen und dem, was sie ausstrahlen, wenig anfangen zu können. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass sie mit ihrer vasenfreien linken Hand den Unterarm ihrer Nachbarin umgreift, als wollte sie diese davon abhalten, noch tiefer ins Glas zu schauen; oder als suchte sie ganz einfach Halt inmitten des leicht in Schräglage geratenen Stimmungsdampfers. Ihr Griff zur Vase bleibt dennoch rätselhaft. Möglich, dass sie damit etwas unmissverständlich Schönes ins Bild integrieren wollte, um so an die traditionelle, zu jener Zeit gehörig ins Wanken geratene Rolle der Frau zu erinnern. Von einer mit Blumen gefüllten Vase geht ja in jedem Fall etwas Versöhnliches aus; so in die Luft gehalten, mit der Unterkante leicht auf den hölzernen Rand des Sofas aufgesetzt, könnte sie der direkt unter einer in Öl gemalten Wildschweinszene stehenden Frau signalisieren, dass rollende Augen angesichts dieser Blumenoffensive ganz besonders unschicklich sind. Das sich in den Pupillen spiegelnde Blitzlicht hat natürlich wesentlichen Anteil an der Herausmodellierung dieser ausdrucksstarken Körperlandschaft, obwohl der von dem Blitz ausgelöste Schreckmoment selbst im Bild nicht festgehalten ist, da der Körper hierfür zu träge reagiert.


Je mehr man sich in die Details dieser Fotografie vertieft, desto deutlicher tritt das seltsame Tapetenmuster hervor, dessen Motiv aus einer Klecksografie hervorgegangen zu sein scheint und in seinem monotonen Rapport den äußersten Gegensatz bildet zu der im Raum selbst vorherrschenden Thermik. Im Wärmestrom der nach oben abziehenden Gefühle hat sich eine Art Glocke gebildet, die es den Anwesenden leicht macht, sich unter ihr zu versammeln und als ein Ganzes zu erscheinen. Die Verwandlung der Tischgesellschaft in eine Menschentraube wäre allerdings ohne die Anwesenheit einer Kamera nicht möglich gewesen. Die zusammengesteckten Köpfe wissen, dass ein Fotoalbum das Leben auf wenige Höhepunkte reduzieren wird – und es noch immer am besten ist, wenn diese aus guter Laune bestehen. Das richtige Leben findet sowieso immer im falschen statt. Darauf anzustoßen, ist erste Bürgerpflicht.


In den abstrakt bis spätkubistisch gemusterten Kleidern ist die Moderne so unübersehbar deutlich angekommen, dass man sich fragt, wie das alles zusammenpasst mit dem, was draußen auf der Straße in jenen Jahren an völkischer Gesinnung sich zusammengebraut hat. So wenig aus der zufälligen Stimmungslage in einer privaten Zelle sich auf das große Ganze schließen lässt, so klar scheint von heute aus, dass der krampfhaft aus dem Bild blickenden Vasenhalterin die nähere Zukunft gehören wird.

Harry Walter