In Platons Hölle

Ich durchblättere die bilderlosen Seiten von Susan Sontags Essaysammlung On Photography in deutscher Ausgabe. Ins Auge sticht eine Auflistung der erwähnten Fotograf:innen am Ende des Buches samt ihrer bedeutsamen Produktion – von den Dokumentarfotografien Cartier-Bressons über die Prominenten-Portraits Coburns bis zu den Sequenzfotografien Muybridges. Überraschenderweise erschließt sich mittels des Verzeichnisses nichts Wesentliches über Sontags Gedanken zur Fotografie.1 Ja mehr noch: ihre verstreut erschienenen und durch eine schwere Erkrankung zeitlich verzögert im Jahr 1977 als Buch veröffentlichten Essays richten sich geradezu gegen die im Verzeichnis evozierte Linearität einer Fotogeschichtsschreibung. Fährt man hingegen den in vielen Abschnitten schlaufenförmigen Sunset Boulevard von Santa Monica entlang und staut sich Richtung Downtown Los Angeles, betritt den Lesesaal der Charles E. Young Research Library der University of California und navigiert durch die Susan Sontag Papers, den gesammelten Nachlass mit Tagebüchern samt Beschwerden über ausgebliebene Honorare, Listen und Rankings besuchter Kinofilme, Privatfotografien aus der Jugend, Zeitungsschnipseln oder Set-Fotografien zu ihren wenigen Filmen, dann zeigen sich interessantere Bildvorlagen, als eine konventionelle Fotogeschichte liefern könnte: Zeitungsausschnitte aus der Tagespresse und immer wieder Werbeanzeigen, vor allem zur Minolta, Leica oder zum Polaroid-Sofortbildverfahren, das in der Entstehungszeit der fotografischen Essays in aller Munde war.


Auf einer aus einer Zeitung herausgetrennten Doppelseite drängt sich in schwarz-weiß eine feine Abendgesellschaft im Bildraum zusammen.2 Der kritische, skeptische Blick der mittig Posierenden eröffnet den Blick auf uns, die Betrachtenden der Betrachteten. Erstaunen, Interesse, Ungläubigkeit steht auf den Gesichtern der mit Krawatten und pelzbesetzten Mänteln herausgeputzten Gesellschaft. Die bohrenden Blicke der Schaulustigen werden intensiviert durch das Kameraauge das scharf stellt, ja scharf gestellt wird mit angestrengter, aderndurchpulster Hand vom Einzigen, der nicht direkt seine Augen auf uns richtet: dem Fotografen. Der Bildraum scheint fast zu klein für die Interessierten am Spektakel; in der rechten oberen Ecke lugt die Brille eines Zuspätgekommenen hervor, der rechte Bildrand durchschneidet das Gesicht einer Dame, deren aufgewühlter Pelzkragen die Fönfrisur der Skeptischen im Zentrum wiederholt, nur um zu sagen: das Additive, die Aufzählung, welche sich im stakkatohaften Telegramstil der hellen Schrift unten wiederfindet, diese Aufzählung wird von der Widerständigkeit des Materiellen – des Mantelkragens, der Fönfrisuren, der fast krampfhaft das Objektiv drehenden Hand – durchkreuzt.


Das Ereignishafte der Szene wird evoziert durch das künstliche Licht von links, das Schlagschatten auf die Gesichter zeichnet, um Nasen und Kopfformen als Schattenspiele zu inszenieren. Die Blicke aus der Tiefe der Fotografie heraus sind nicht nur gemeint als Vehikel zur Überbrückung der Distanz zwischen Fotografierten und Betrachtenden. Sie loten zugleich den Abstand der historischen Leica-Werbefotografie von Jacques Rouchon aus dem Jahr 1973 zur heutigen Betrachter:in aus. Doch dann ein plötzliches Gewahrwerden: Wir sind gar nicht gemeint! Können nicht gemeint sein, auch wenn die Blickkonstellation aus Schuss und Gegenschuss eine eindeutige Adressierung der Betrachter:innen außerhalb des Bildraums nahe legt.


Dies verrät die weiße Schrift, die eine Aneinanderreihung von Ortsnamen über das Bild laufen lässt, rhythmisiert durch drei Punkte – zugleich Auslassung und Möglichkeit einer unendlichen Aufzählung: ...Prague...Woodstock...Vietnam...Sapporo...Londonderry... Die Städte stehen wie Zeitkapseln für kulturelle und welthistorische Ereignisse der 1960er und 1970er Jahre. Der Prager Frühling, das Musikfestival, der Vietnamkrieg, die Olympischen Winterspiele und der Beginn des Bürgerkriegs in Nordirland. Und so verändert sich durch das Text-Bildverhältnis instantan der Gegenstand, auf den die Gesellschaft schaut: Die welthistorischen Ereignisse reflektieren sich im Mienenspiel der Gesichter, die das, was sie sehen, im Moment der Betrachtung durch Unglauben und Erstaunen in ein Ereignis verwandeln. Susan Sontag nannte dies kurz: Voyeurismus.


Diese Fotografie legt allerdings nahe, dass sich der Gegenstand des Ereignisses, der Anstoß der Erregung, als Leerstelle entzieht. Das Eigentliche zeigt sich nicht direkt, der historische Moment fällt nur als Abglanz auf die Gesichter der Beteiligten, deren vermittelte Reaktionen wiederum auf uns Nachgeborene vorausfällt. Diese Fotografie ist kein Bild über welthistorische Geschehnisse, sondern über das Prinzip des erregten Schauens, das mit der Fotografie in die Welt kam, und in dessen Kern der Entzug der Welthaltigkeit steckt. Gleichzeitig inszeniert sie das Versprechen, ein Abbild der Welt – und sei es ein bruchstückhaftes, unvollkommenes, verstelltes – durch Fotografien zu erhaschen.


Die verspätete Betrachterin, die sich im Visier der Unbekannten, vielleicht längst Gestorbenen wähnte und jetzt in die Betrachtung der Welthistorie hineingezogen wurde, klappt im Susan Sontag-Archiv das durch eine mittige Falte markierte, an den Ecken und am Falz leicht eingerissene dünne Zeitungspapier zu. Erst sehr viel später wird sie beim Wiederlesen von Sontags Schriften realisieren, dass diese, von Susan Sontag im eigenen Archiv aufbewahrte Zeitungsseite eins zu eins – als eine Art materialisierte Theorie – in die ersten Passagen des fotografischen Essays In Platos Höhle eingegangen ist. Jedoch ohne das Bild zu zeigen. So wie alle Fotoessays Susan Sontags ohne Bilder erschienen sind – eine Parallele zu den zuerst bilderlos erschienenen Essays zur Fotografie von Roland Barthes, den Susan Sontag verehrte.


Susan Sontag schreibt:


Die Fotografie ist zu einem der wichtigsten Hilfsmittel geworden, um eine Erfahrung zu machen, um den Anschein der Teilnahme an irgend etwas zu erwecken. Eine ganzseitige Anzeige zeigt eine Gruppe von Menschen, die dicht beieinander stehen und entsetzt, erregt, fassungslos wirken – alle, bis auf einen. Dieser hält eine Kamera ans Auge; er macht einen selbstsicheren Eindruck und scheint fast zu lächeln. Während die anderen passive, offensichtlich leicht beunruhigte Zuschauer sind, hat der Besitz einer Kamera diesen einen Menschen ›aktiviert‹, ihn zum Voyeur gemacht. Nur er ist Herr der Lage. Was sehen diese Leute? Wir wissen es nicht. Und es spielt auch keine Rolle. Es ist ein Ereignis: etwas Sehenswertes – und damit Fotografierenswertes. Der Text der Anzeige – weiße Buchstaben, die quer über das untere, dunklere Drittel des Fotos verlaufen wie aus einem Fernschreiber tickernde Meldungen – besteht lediglich aus sechs Worten ›... Prag ... Woodstock ... Vietnam ... Saporo ... Londonderry ... LEICA .‹ Zerstörte Hoffnungen, jugendliche Mätzchen, Kolonialkriege und Wintersport werden über einen Kamm geschoren – von der Kamera einander gleichgesetzt. Das Fotografieren hat eine chronisch voyeuristische Beziehung zur Welt geschaffen, die die Bedeutung aller Ereignisse einebnet [...] Während Menschen aus Fleisch und Blut drauf und dran sind, sich selbst oder andere umzubringen, steht der Fotograf hinter seiner Kamera und erschafft ein winziges Element einer anderen Welt: der Bilder-Welt, die sich anheischig macht, uns alle zu überdauern.3


Oft ist der Aspekt der Einebnung und das Gleichmacherische der fotografischen Technik in Sontags Einlassungen hervorgehoben worden. Hier komme ihre Skepsis an der sogenannten Bilderflut zum Ausdruck, die nur noch sekundäre Abbilder, reproduzierte Konterfeis liefere und uns zu ereignisbesessenen Voyeurist:innen mache. Ich glaube vielmehr – auch gerade angesichts der herausgeputzten Abendgesellschaft im Archiv –, dass Sontag hier, im Kontext der Gesamtschau der Essays, eine komplizierte Komplizenschaft zwischen Fotografen, Betrachtenden, Abbildern und deren Welthaltigkeit hervorhebt, die ihre Sprengkraft einbüßt, sobald man sie auf die Nivellierung der Bedeutungszusammenhänge verkürzt. Denn »[f]otografische Bilder [...] scheinen nicht so sehr Aussagen über die Welt als vielmehr Bruchstücke der Welt zu sein.«4 Und als Bruchstücke sind sie Spuren dieser Realität, aber keine Fenster, die einen unverstellten Blick auf diese freigeben würden.


Um diese Qualitäten der Fotografie zu erfassen, verbindet Sontag in ihrem Schreiben verschiedene Metaphernfelder von Fenstern, Spiegeln und Spuren, die sie zehn Jahre später im Jahr 1987 im Vorwort eines Katalogs des italienischen Fotoarchivs Alinari zusammenführen wird.5 In einer ersten, unpublizierten Version ihres Vorwortes heißt es: »Photographs are traces, but not windows which give us a transparent view of the world as it is–more exactly, as it was. They are a particular kind of sign system producing the illusion of reality (what Barthes called: ›the effect of the real‹).«6 Nach Sontag ist die Fotografie keine Interpretation der Realität, wie es ein Bild von Rembrandt oder ein literarisches Werk wie Schuld und Sühne wäre. Die Fotografie gibt einen Blick auf die Realität frei und unterscheidet sich darin von anderen Medien; gleichzeitig kann dieser Blick immer nur selektiv und transformiert sein. Die spezifische Art und Weise wie diese Realität gespiegelt werde (»mirroring reality«), kommt in Sontags Formulierung »Photographs are traces, but not windows« zum Tragen. Fotografien sind Spuren, die nicht direkt mit dem tradierten Topos des Fensters als Ausblick und Durchblick verbunden werden können; dennoch ist ihnen eine selektive Transparenz auf die Realität zu eigen – einer vergangenen Realität, die medial eingefasst wurde.


Diese mediale Transformation von Fotografien schöpft Sontag – wie der Gang ins Archiv zeigt – weltpolitischen Ereignissen ab, die sie als fotografische Abbilder von Abbildern in der Tagespresse sammelt; aus The New York Times, The Herald Tribune und The Village Voice, die erste der alternative weeklies, in der so namhafte Autoren wie, Henry Miller, Katherine Ann Porter oder Ezra Pound schrieben. Sontags Bildvorlagen sind mehrfach medial überformt und bergen nichtsdestotrotz Bruchstücke einer heterogen verstreuten Realität: ikonische Schreckensbilder des Vietnamkriegs, Apartheid-Opfer gemischt mit Satellitenbildern der Erde aus 36.000 Kilometern Entfernung und Nightclub-Dokumentationen. Die Bestimmung des Fotografischen als Feld endloser, sich auch entziehender Bedeutungen manifestiert sich in der Menge ausgerissener Zeitungsausschnitte, deren versprengte Herkunft nur von dem sie umfangenden Folder des Archivs zusammengehalten werden und die später – als geronnene Theoriebausteine – in Sontags Schreiben Eingang finden. Ungebändigt und nicht verzeichnisfähig.

Katja Müller-Helle
  1. Vgl. das Verzeichnis der in den Essays erwähnten Fotografien (für die deutsche Ausgabe zusammengestellt von Birgit Mayer), in: Susan Sontag, Über Fotografie, aus dem Amerikanischen von Mark W. Rien und Gertrud Baruch, Frankfurt am Main 1980 [16. Aufl. 2004], S. 193-200.

  2. Leica-Werbung, Zeitungsausschnitt, Box 98, F. 5, Susan Sontag Papers (Collection 612), Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA, Los Angeles.

  3. Sontag 2004 [1977], S. 16/17. Im englischen Original: »Photography has become one of the principal devices for experiencing something, for giving an appearance of participation. One fullpage ad shows a small group of people standing pressed together, peering out of the photograph, all but one looking stunned, excited, upset. The one who wears a different expression holds a camera to his eyes; he seems selfpossessed, is almost smiling. While the others are passive, clearly alarmed spectators, having a camera has transformed one person into something active, a voyeur: only he mastered the situation. What do these people see? We don’t know. And it doesn’t matter. It is an Event: something worth seeing — and therefore worth photographing. The ad copy, white letters across the dark lower third of the photograph like news coming over a teletype machine, consists of just six words: ›…Prague…Woodstock…Vietnam…Sapporo…Londonderry…LEICA.‹ Crushed hopes, vouth antics, colonial wars, and winter sports are alike — are equalized by the camera. Taking photographs has set up a chronic voyeuristic relation to the world which levels the meaning of all events. […] While real people are out there killing themselves or other real people, the photographer stays behind his or her camera, creating a tiny element of another world: the image-world that bids to outlast us.« Zit. nach Susan Sontag, On Photography, London 1977, S. 10/11.

  4. Sontag 2004 [1977], S.10.

  5. Susan Sontag: Vorwort, In: Cesare Colombo: Italy: One Hundred Years of Photography. Fratelli Alinari. Florence 1987, S. 13. Wie einer bisher unveröffentlichten Korrespondenz Susan Sontags zu entnehmen ist, drängt sie in diesem Zusammenhang immer wieder auf eine Bezahlung. Diese ökonomischen Nöte, die ihr Schreiben begleiteten, müssten viel stärker im Fokus stehen: »And I hope you won’t oblige me to remind you again about the payment. [...] My need for this payment is urgent.« In einem handgeschriebenen Entwurf zum abgeschickten Brief findet sie noch stärkere Worte für ihre Enttäuschung, die sie jedoch mehrfach wieder durchstreicht: »[...] I wish you wouldn’t put me in this position.« Box 71, F. 10, Susan Sontag Papers (Collection 612), Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA.

  6. Mit »draft I« gekennzeichnetes Manuskript. Box 71, F. 10, Susan Sontag Papers (Collection 612), Special Collections, Charles E. Young Research Library, UCLA.