Halbe Ewigkeiten
Ein Buch ungewissen Inhalts, eine Uhr, die von einem Greifvogel in der Schwebe gehalten wird, eine Muschel und die Miniatur eines Schlittens, der von einem Rentier, Hirsch oder sonst einem Rotwild gezogen wird – all das versammelt auf dem grauen und formlosen, dennoch fast greifbaren Stoff einer Tischdecke, und unter der Aufsicht eines Kristalllüsters, der, vom Rahmen abgeschnitten, aus dem Nichts auf dieses Ensemble herunterzublicken scheint, ohne zu leuchten. Der Hintergrund gibt wenig von sich preis. Man erahnt eine floral gemusterte Tapete, grob die Umrisse einiger Dekorationselemente, die vielleicht in einigem dem Ensemble im Fokus korrespondieren würden, und sieht schon den Stuhl, der halb an den Tisch gerückt steht, seine Konturen im Zwielicht des Bildes verlieren. Trotz der überdeutlichen Entscheidung, was das Bild enthalten soll, entsteht weder rechte Nähe noch Ferne, die Perspektive scheint wie beiläufig gewählt, eher dilettantisch als distanziert. Der Mangel an Präzision stellt wie aus Versehen die Beliebigkeit dessen aus, was hier an Miniaturen im bürgerlichen Interieur vom Beginn des 20. Jahrhundert ausgestellt werden soll. Das Bild könnte einem gewissen Überall entstammen, von diesem oder jenem Nachbarn aufgenommen worden sein, und man hätte im Vorübergehen von Wohnstube zu Wohnstube bei jedem Bürger ähnlichen Kram auf gleicher Tischdecke finden können, die Tapeten und Lüster hätten sich fortgesetzt und wiederholt. Was heute befremden mag, wird seinerzeit mehr als gewöhnlich gewesen sein, und die ungelenke Bildkomposition verwehrt es noch dem Immergleichen, exemplarisch zu werden.
Was das Bild hier als Stillleben zusammengestellt und kontrastreich festgehalten hat, wird die Belichtungszeit geduldig über sich ergehen haben lassen. Einzig die notwendige Lichtquelle, das Fenster zur Rechten, durch das die Sonne das dennoch düstere Interieur beschienen hat, zeugt davon, dass hier nicht alles auf Ewigkeit eingestellt gewesen ist, zumindest nicht vor der Entscheidung, auszulösen. Dem Licht entgegengesetzt zeichnen sich schwarz und langgestreckt an der Muschel und am merkwürdigen Gespann lange Schatten ab, die mit dem allmählichen Sinken der Sonne im Verlauf des Nachmittags wohl weiter gewandert wären, bis sie schließlich eins geworden wären mit der Dunkelheit des Raumes.
Man könnte sich vorstellen, dass es sich bei diesem Bild um eine Tatortphotographie handelt. Dann wäre die Motivation hinter diesem Ensemble keine vornehmlich ästhetische, sondern eine investigative Maßnahme, die das Vorfindliche am Schauplatz eines Verbrechens festzuhalten und zur Spur zu transformieren hätte. So und nicht anders sind die rätselhaften Gegenstände vorgefunden worden, und so und nicht anders zeugen sie von dem, was sich hinter verschlossenen Türen zugetragen haben mag. Im Bild des Salons laufen so die Momente von Photographie und Interieur zusammen, wie man sie im Anschluss an Walter Benjamin fassen könnte – das «Menschenleere» dieser Photographie hat etwas von dem, was Benjamin an Eugène Atgets Pariser Bildern beschrieben hat, die in ihrem Fokus auf das einzelne, oft abwegige Motiv und durch die Abwesenheit von Menschen und Bewegung eben aufgenommen seien ‹wie ein Tatort›.1 Damit reproduziert das Bild die Spur, von der das Interieur in Benjamins Augen ohnehin durchzogen ist – das bürgerliche Interieur ist immer schon der Schauplatz eines Verbrechens – «Auf diesem Sofa kann die Tante nur ermordet werden.»2
Zugleich aber hat das Sujet den Impuls der technischen Verewigung einer solchen Spur scheinbar schon vorweggenommen, bevor der Auslöser betätigt worden ist. Die Belichtung hat in einem Zeitraum stattgefunden, in dem sich nicht nur nichts ereignet hat, sondern der die bloße, zähe Fortsetzung einer halben Ewigkeit gewesen sein mag, in welcher der Nippes so zusammengestellt gewesen ist. Man mag sich durchaus vorstellen, dass hinter dem Tisch etwa die Leiche des Hausherrn verborgen, dass der Rest des Raumes in Verwüstung aufgelöst ist und weitere Spuren von Grausamkeiten trägt; aber das, was man sieht, scheint sich derart ins Untätige und Unvergängliche aufzulösen, dass es einem schwer fällt, sich eine dazugehörige, vorangegangene Tat zu diesem Szenario zu denken, die hierin ihren Schauplatz gehabt haben soll. Trotz ihrer scharfen Kontraste und der vom Fokus erzeugten Raumtiefe scheint die Photographie die ohnehin schon unbeseelten Gegenstände noch weiter aus dem Leben herausgesetzt zu haben; eine vielleicht unmögliche Tat, die die Photographie selbst in den vier Wänden dieses Zimmers vollzogen hat, die Verewigung dieses ordinären Plunders.
Das Bild ist aus der Zeit und in meine Hände gefallen, hat sich so (ohne jede Bildlichkeit gesprochen) negativ erhalten, und ist, heute betrachtet, zum zwielichtigen mise en abyme geworden. Die versammelten Gegenstände haben die Zeit nicht überstanden, und auch ihre Übersetzung ins Bild nur unter der Voraussetzung überlebt, dass sie kaum kenntlich geblieben sind und nunmehr Rätsel darüber aufgeben, was sie gewesen sein mögen. Anstatt sie zu repräsentieren, ist mir das Bild an ihre Stelle getreten, hat sie für immer so zusammengefügt, wie sie sich nun zeigen, mit einer Einstellung für nunmehr eine halbe, in ihrem Ursprung geteilte, vielleicht schlechte Ewigkeit. Das Bild bleibt gewissermaßen negativ, seine Entwicklung und Auflösung greifen ineinander. Wird eine Photographie wie diese etwa einhundert Jahre alt, bleibt zwar ein roter Faden in ihr aufbewahrt, dem man gedanklich und im Blick nachgehen kann bis zum Moment, der sich hier eingebrannt hat. Aber das Noema, das «Es-ist-so-gewesen», wie Barthes es ausdrückt, ist darin nicht bloße Dokumentation, wenn es gilt, den Abstand der Zeit mitauszustellen und sich immerfort zu fragen, was das Ensemble zusammengeführt haben mag. Dass es so gewesen ist, ist selbst sein Rätsel. Es ist das andere, zweite punctum der Hellen Kammer, von dem Barthes sagt, dass es «nicht mehr eines der Form, sondern der Dichte [sei],», es «ist die Zeit, ist die erschütternde Emphase des Noemas («Es-ist-so-gewesen»), seine reine Abbildung»3. In diesem Bild meines Großvaters wird diese weitere Bedeutung dessen, was uns an der Photographie angeht und betrifft, vielleicht schon zu sehr ins Bild gesetzt – dass der «Stich» des punctums hier tiefe und deutliche Spuren auf der Oberfläche des Glases hinterlassen hat. Das Glas hat die Zeit nicht unbeschadet über sich ergehen lassen, und Staub und Risse in sich eingeschlossen, die keineswegs zur selben evidenten Gegenwart gehören können wie das Sujet; und diese Risse und Stiche, diese zeitlichen Spuren weigern sich, am Rand oder an der Oberfläche der Photographie zu bleiben, ohne an die dargestellte Wirklichkeit zu rühren. Die Abbildung der vergangenen Gegenwart ist selbst schon prekär, insofern sich nichts von der Stelle bewegt, was im Bild festgehalten wurde; schon ohne das Zutun der Photographie bleibt hier alles, wie es ist, für immer eingeschlossen um das Interieur, dem man eine Dimension genommen hat, vielleicht mehr als eine. Aber der Bildträger selbst hat an dieser Verewigung nicht teilnehmen können, jeder seiner Sprünge und Risse hat mit der Zeit das Motiv weiter verdeckt und allmählich verunkenntlicht. Es ist fast so kitschig wie der ausgestellte Tand selbst, wenn es gerade die Uhr sein muss, die mit scheinbar allegorischem Tiefsinn von der Technik der Photographie nicht eingefangen werden konnte. Es ist mir nicht möglich, zu bestimmen, ob die geheimnisvollen Schwaden, die sich um das Ziffernblatt gebildet haben, Zeichen der Zeit sind, die das Negativ in der Vergessenheit seines kleinen Archivs im Kellerraum verbracht hat, oder ob es an Lichteinfall und Rezeptionsfähigkeit des Bildträgers gelegen haben mag; aber es geht ein Riss durchs Bild, der beidem, dem Medialen und dem Materialen, angehört und die Frage nach der Zeit dieses Bildes stellt.
Mein Blick streift also über ein Motiv, das stillsteht, in einem Bild, das für die Ewigkeit festhält und darüber selbst gealtert ist, und er versucht, die losen Enden vor und nach der Belichtungszeit miteinander in Einklang zu bringen. Dass die Zeit stillsteht, wie uns das allegorisierte Ziffernblatt weismachen will, ist eine brüchige Logik des Bildes; und ebenso, dass sie einfach vergangen ist. Auch wenn sie erst später hinzugetreten sein mögen, sind die Spuren seiner Lagerung Teil des Bildes geworden, die seine Lesbarkeit neu bestimmt haben, um zwischen dem Jetzt der Aufnahme und dem Jetzt ihrer Rezeption Verbindungen zu knüpfen; das temporale punctum, dessen Eigenzeit ins Bild eingebrochen ist, zieht Fäden in das Bild ein, die ihm ansehen lassen, dass auch es eine Vergangenheit gehabt haben wird. Halbe Ewigkeit, nicht ganz für immer.
«Diesem Vorgang seine Stätte gegeben zu haben, ist die unvergleichliche Bedeutung von Atget, der die Pariser Straßen um neunzehnhundert in menschenleeren Aspekten festhielt. Sehr mit Recht hat man von ihm gesagt, daß er sie aufnahm wie einen Tatort. Auch der Tatort ist menschenleer. Seine Aufnahme erfolgt der Indizien wegen. Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget, Beweisstücke im historischen Prozeß zu werden.» (Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. 1.2, hg. v. R. Tiedemann u. W. Schweppenhäuser, Frankfurt a. M., 471-508, 485).
Walter Benjamin, Einbahnstraße, Berlin 1928, 12.
Roland Barthes, Die helle Kammer, übers. v. D. Leube, Frankfurt a. M. 1989, 105.