Hadōken!

Like the tongue of a serpent, Señor Zorro’s blade shot in. Thrice it darted forward, and upon the fair brow of Ramon, just between the eyes, there flamed suddenly a red, bloody letter Z!

― (Johnston McCulley, The Mark of Zorro, 1924)

Hadōken, das ist zuallererst eine Bildfolge: Der Karate-Kämpfer Ryu, wie er uns zugedreht die Fäuste ballt, das Gewicht nach hinten verlagert und die Hände auf Bauchhöhe zusammenführt; wie er dann ruckartig den Oberkörper dreht und die Arme mit den Handflächen nach außen vorstreckt, als würde er eine imaginäre Kugel von sich stoßen. Kurz scheinen seine Hände blau auf, bevor zwischen ihnen tatsächlich eine pulsierende Energiewelle hervorschießt. Als Animation abgespielt ergeben die Bilder einen Bewegungsablauf, der vielen Videospieler*innen seit mittlerweile Jahrzehnten bekannt ist: eben den als «Hadōken» – aus dem Japanischen grob übersetzt «Wellenfaust» – bezeichneten ‹Move›, mit dem Ryu als Spielfigur der Kampfsport-Reihe Street Fighter seit 1987 seine Kontrahent*innen beharkt. Bis heute muss Ryu diese Bewegung auf den Bildschirmen von Arcade-Automaten, Spielekonsolen und PCs millionenfach ausgeführt haben, doch selbst wenn sie beispielsweise in Street Fighter II von 1991 immer aus denselben Einzelbildern animiert wird, werden wir sie niemals in dieser Weise isoliert, sondern immer als Element eines größeren, jeweils aufs neue berechneten Bilds sehen. Darüber zu schreiben wirft so auch die Frage auf, was überhaupt das einzelne Bild in einem Videospiel ausmacht – schließlich wird es zumeist eine Momentaufnahme bleiben, die im Gegensatz zum Einzelbild eines Films nur einen von vielen möglichen Zuständen im Spielverlauf festhält.


Auf einem Screenshot aus Street Fighter II ist eines der Einzelbilder Ryus aus der zuvor isolierten Animation in einer vollständigen Bildkomposition integriert. In einer Totale sind hier links Ryu und rechts sein Sparringpartner Ken zu sehen, die sich auf einem Bootssteg einen Zweikampf liefern; beide tragen typische Kampfsport-Anzüge samt schwarzem Gürtel, die Ärmel abgetrennt, um die muskulösen Oberarme freizulegen. Dabei werden sie von Figuren im Hintergrund angefeuert – Einheimische und Tourist*innen in einer exotisierten südamerikanischen Kulisse, in der weder Strohhütte noch Mangrove samt Riesenschlange fehlen dürfen. Halb hinter Ken verborgen geht jemand in die Hocke, um ein Foto zu schießen. In der farbenfrohen, detaillierten Cartoonästhetik könnte dies auch ein Standbild aus einem Zeichentrickfilm sein, doch diese Komposition ist nur eine unter vielen möglichen, die die Software erzeugen kann – anstelle von Ryu und Ken könnten hier andere Street-Fighter-Figuren wie die Interpol-Agentin Chun-Li oder der feuerspeiende Yogi-Meister Dhalsim einen Zweikampf austragen, anstatt am hier als «Amazon River Basin» benannten Schauplatz könnten sich Ryu und Ken ebenso in einem japanischen Badehaus oder auf einem US-Militärflugplatz prügeln. Falls für dieses Bild eine über die pure Action hinausgehende Interpretation gesucht werden sollte, wäre es gerade die ständige Rekombination der möglichen Konflikte an ihren unterschiedlichen, pittoresken Schauplätzen. Aus der knappen Biografie Ryus in der Spielanleitung erfahren wir ganz in diesem Sinne nicht viel mehr, als dass der junge Karateka «kein Zuhause, keine Freund*innen, keine Familie» hat und stattdessen über den Globus wandert, um sich mit anderen Kämpfer*innen zu messen.


Mit dieser Szene wäre der Screenshot jedoch nur unvollständig beschrieben. Am oberen Bildschirmrand können wir noch den Spielstand ablesen – zwei gelbe Balken zeigen an, wie viel Schaden die Kontrahenten einander durch Schläge, Tritte oder besondere Angriffe wie das Hadōken zugefügt haben (sollte der Energieball Ken treffen, würde sich ein Segment seines Balkens rot färben). Der Screenshot hält damit einen Augenblick aus einem Spielverlauf fest und zeigt zugleich eine sehr moderne Bildgattung: Ein Interface, das zur Vermittlung unterschiedlicher Informationen zwischen Mensch und Maschine dient. Die dafür genutzten Mittel ergeben gerade in ihrer Heterogenität ein für Videospiele typisches Bildprogramm. Statistische Daten werden über einer cartoonhaften Animation eingeblendet, doch auch deren Motive – die beiden Kämpfer, der in starker perspektivischer Verkürzung dargestellte Raum der Arena, der touristische Hintergrund – sind nicht nur illustrativ: Die Positionen und Haltungen von Ken und Ryu im Vordergrund zeigen schließlich an, welche Handlungsoptionen wir als Spielende überhaupt haben. Ryu muss so noch einen Moment in dieser Haltung verharren, während der Energieball über den Bildschirm wandert; Ken könnte derweil in die Höhe springen oder den Angriff abblocken, weil der verursachte Schaden in diesem Moment nicht spielentscheidend wäre und gewissermaßen einkalkuliert werden könnte.


Ryus Move ist ein Datensatz: die Koordinaten des Energieballs im Spielfeld, der numerisch bestimmte ‹Schaden›, den er anrichtet, die Einzelbilder der Animation in einer Bilddatei. Es ist aber auch ein markanter, dramatischer Bewegungsablauf, der als solcher das Spiel erst interessant macht. Als Datensatz ist er bereits genormt, doch auch visuell sollte er stets identisch bleiben – er muss wiederholbar sein, damit wir wissen, wie wir spielen, und wiedererkennbar, damit wir uns erinnern, was und warum wir spielen. So wird Ryu sein Hadōken immer zuverlässig ausführen und dabei noch den Namen des Moves ausrufen, wenn wiederum wir halbwegs präzise eine bestimmte Kombination am Eingabegerät ausgeführt haben: Eine viertel Drehung des Joysticks von unten hinauf in die Richtung, in die er den Energieball schleudern soll; sofort danach ein Knopfdruck. Solange Soft- und Hardware nicht mit unserem Nervensystem verschaltet sind und wir ‹Avatare› nicht intuitiv wie den eigenen Körper bewegen, müssen Handlungen in virtuellen Welten auf eine solche Weise abstrahiert und schematisiert werden – Ryu kann in Street Fighter nur eine begrenzte Anzahl unterschiedlicher Aktionen ausführen, denen jeweils genau eine Eingabefolge entspricht. Das ist eine logistische Angelegenheit zwischen Mensch und Apparat; es gibt eben nur so viele Knöpfe, die unsere Finger zugleich bedienen können, und so viele Kombinationen, die unser Gedächtnis speichern kann. Zugleich ist es ein ontologisch interessanter Kompromiss: Mit der korrekten Eingabe lassen wir Ryu einen Energieball heraufbeschwören oder Ken aus dem Stand gut zwei virtuelle Meter in die Höhe springen, um dem Hadōken auszuweichen, aber umgekehrt lassen uns Ryu oder Ken solche spektakulären Handlungen ausführen, während wir in Wirklichkeit vor dem Bildschirm auf einem Controller herumdrücken. So bleibt es eine immer unvollständige Verkörperung, in der wir für einen Augenblick die Kontrolle über die Figur aufgeben und sie machen lassen.


Der genormte Move im Videospiel artikuliert jedoch nur aus, was in der modernen Populärkultur seit jeher angelegt scheint. Wenn Ryu 1987 in Street Fighter gegen einen Wurfsterne schleudernden Ninja, einen britischen Punk oder einen greisen chinesischen Kampfsportmeister antritt, wird ins digitale Bild übertragen, was Kung-Fu-Filme, Anime-Serien oder Wrestling dieser Zeit ohnehin schon boten: Hochstilisierte Action mit einer eigenen Ikonografie, die sich ebenso in skurrilen, stereotypisierten Charakteren niederschlägt wie in ihren ins Fantastische abdriftenden Kampfkunststilen oder mörderischen Gadgets. Das Handeln der Protagonist*innen in einem überschaubaren Katalog von Moves zusammenzufassen scheint dramatische Action weniger zu beschränken als zu destillieren. Auch in den 1980ern ist dies bereits nicht neu und historisch mit einer materialistischen Verwertungslogik verwoben. Wie der Begriff des Signature Move im Wrestling oder Eiskunstlauf andeutet, handelt es sich hier um ein Markenzeichen; es verweist visuell und performativ auf eine Autor*innenschaft. Kein Move fasst das wohl besser als Zorros «Z», wenn der maskierte Held mit dem Degen seine besiegten Widersacher markiert und so nicht nur seine Taten ‹unterzeichnet›, sondern auch die eigene Wiedererkennbarkeit als kulturindustrielles Produkt verfestigt.

Zorro erscheint zuerst 1919 auf der Bildfläche, in etwa der gleichen Zeit, in der Frank und Lillian Gilbreth ihre «Chronocyclegraphen» erstellen – fotografische Studien, bei denen dank Langzeitbelichtung und an den Gliedern angebrachter Lämpchen menschliche Bewegungen als Linienzeichnung festgehalten werden, seien es diejenigen von Fabrikarbeiter*innen oder die eines Profigolfers. Den Gilbreths geht es vor allem um die Effizienz von Arbeitsprozessen. Dafür müssen wir Handlungen als wiederholbare Einheiten verstehen, die technisch erfasst, bemessen und optimiert – sprich, standardisiert – werden können. «This is the age of measurement», verkünden die Gilbreths in ihrem Buch Applied Motion Study von 1917, und es ist das technisch erzeugte Bild, das im Fall ihrer Arbeitsstudien diese Bemessung ermöglicht. Vor diesem sonderbaren Spannungsfeld lässt sich dann auch Jahrzehnte später Ryus Hadōken betrachten: das Bewegungsbild einer stets wiederholbaren Handlung, standardisiert und – selbst wenn es hier nicht um Arbeitsleistung geht – messbar. Tatsächlich ist es gerade der Wettbewerbscharakter in Actiongenres, der eine solche Quantifizierbarkeit einfordert. In Games wie Street Fighter muss jeder Move vergleichbar und austauschbar sein, damit Spielverläufe vielfältig und zugleich fair bleiben, aber auch in Anime-Serien wie Dragon Ball oder Naruto bleiben sie zumindest zueinander relativ – so lässt sich die Story anhand des Erlernens von immer effektiveren Techniken durch die Protagonist*innen als Fortschritts- und Erfolgsgeschichte lesen.


Entsprechend existieren vom Hadōken in den späteren Street-Fighter-Teilen zahlreiche Varianten, deren mitunter überlegene Stärke dann beispielsweise durch kompliziertere Eingabefolgen ausgeglichen werden muss, um das Spielfeld wieder zu nivellieren. Wo Sportlichkeit keine Rolle spielt, eskaliert die Fortschrittserzählung hingegen oft zum Wettrüsten, bis beispielsweise die Protagonist*innen von länger andauernden Actionserien ganze Landschaften einebnen – das «age of measurement» scheint sich dann unaufhaltsam ins Katastrophale zu potenzieren, bis die vollständige Auslöschung jegliche Quantifizierung hinfällig macht. In der seit den 1980ern auf Tausende von Seiten und hunderte von Stunden angewachsenen Manga- und Anime-Serie Dragon Ball nimmt der Move Kamehameha eine – selbst als konkrete Bewegung – ähnlich ikonische Rolle ein wie Hadōken in Street Fighter: Während Protagonist Goku bei seinem ersten Versuch damit immerhin einen Kleinwagen demoliert, muss sein Sohn Gohan mehrere Erzählstränge später seine avancierte Version dieser Kampftechnik einsetzen, um damit wiederum das Kamehameha eines Gegners abzuwehren, das sonst gleich eines Meteoriten die gesamte Erde zerstört hätte. Ob damit eine Kritik am Eskalationspotential einer ‹technisierten› Gesellschaft ausformuliert oder einfach die materialistische Logik von ewigem Wettbewerb und Wachstum durchdekliniert wird, sei hier dahingestellt.

Freilich werden die wenigsten von uns Street Fighter, Tekken oder ähnliche Games vor einem solchen eschatologischen Horizont spielen. Innerhalb der immer wieder neu kombinierten Action-Choreographien in den Arenen von Fighting Games wird kein Move wirklich der letzte sein, und so ist die einzige historische Perspektive die individuelle Hoffnung, das Spiel selbst besser zu beherrschen. Dass sich ambitionierte Spieler*innen dann die einzelnen Bewegungsabläufe der Moves noch bis auf den Sekundenbruchteil einprägen, würde auch die Gilbreths nicht ganz kaltlassen; vielleicht ist dies schließlich die reinste Form der Selbstoptimierung an der Maschine. Dennoch sind es auch Bildfolgen, die affektiv, begeisternd wirken sollen. Die Wiederholbarkeit der Moves, das Ausrufen ihrer Namen verleiht ihnen die Aura eines Ritus, der – ganz wie die Figuren im Eiskunstlauf – einerseits sehr sinnlich, andererseits bis ins Extrem rationalisiert ist: Waghalsige, nicht zuletzt erotisierte Bewegungsabläufe, die dennoch strengste Standards erfüllen sollen. Doch worauf würde ein solcher Ritus verweisen? Religiöse oder säkulare Riten wirken sinn- und ordnungsstiftend – sie legitimieren Institutionen und werden durch diese legitimiert. Möglicherweise zeigt der Move als ein Ritus dann nur, welche Rolle die Kulturindustrie mittlerweile als ein Kultus des Industriellen spielt, wenn gerade die schon aus technischen Gründen standardisierte Geste begeistert; wenn selbst unsere Sehnsucht danach, die alltägliche Ordnung zu unterwandern und zumindest wie Ryu, Ken & Co. die Schwerkraft für einen Moment auszuhebeln, am zuverlässigsten durch einen Spezialeffekt eingelöst wird, durch eine optimierte Eingabe am Controller, eine Bildfolge am Monitor.

Jacob Birken