Aztek CodeAztek Code, Neo Geo, Op Art

Wer im Jahr 2000 einen Zug der Deutschen Bundesbahn benutzte, konnte alle Informationen auf dem Fahrschein noch ohne Hilfe lesen und verstehen. Mittlerweile verbergen sich die Angaben in einem fünf mal fünf Zentimeter großen Bildchen, das aus winzigen schwarzen und weißen Quadraten besteht. Diese sind in dreiundachtzig waagerechten Zeilen und ebenso vielen senkrechten Spalten angeordnet, so dass sich ein Feld von 6889 Pixeln ergibt, das als Ganzes wiederum quadratisch ist. Genau in der Mitte wird ein kleineres Quadrat aus insgesamt 169 Pixeln gebildet, die in durchgängigen schwarzen und weißen Streifen angeordnet sind.


Um die darin verschlüsselten Informationen zu dechiffrieren, benötigt man ein elektronisches Lese-Gerät. Mit bloßem Auge erkennt man gerade noch, dass die kleinen schwarzen und weißen Quadrate immer wieder anders verteilt wurden, doch im Großen und Ganzen sehen sich alle Muster so ähnlich wie die Seiten eines Buches, das in einer unbekannten Schrift gedruckt wurde. Der Sinn des Sichtbaren bleibt rätselhaft, weil man darin keine Notation erkennt. Da man mit dem binären Code, nach dem die Pixelmuster generiert wurden, nicht vertraut ist, kann man diese Muster nur wie Bilder betrachten. Tatsächlich sind sie aber keine Bilder, sondern Schriftstücke.


Was bedeutet es aber, etwas als ein Bild zu betrachten? Ein Bild, schrieb Maurice Denis im Jahre 1890, »est essentiellement une surface plane recouverte de couleurs en un certain ordre assemblées.« Diese Definition ist für die Moderne deshalb maßgeblich geworden, weil sie Bilder nicht mehr in Relation zu dem jeweils Abgebildeten versteht, sondern als selbstgenügsame Strukturen. Es liegt nahe, solche Strukturen auch in den Pixelmustern der Bahn zu suchen, denn als Abbilder von möglichen Sachverhalten sind sie nur schwer zu verstehen. Mit viel Phantasie könnte man ein solches Muster vielleicht als Aufsicht auf eine Menge schwarz gekleideter Menschen deuten, die sich auf einem schneebedeckten Feld um einen Turm versammeln. Man könnte sich sogar vorstellen, dass hier etwas Unsichtbares sichtbar gemacht wird, wie zum Beispiel die Belegung der Sitzplätze um einen Boxring, wobei die Anhänger des Titelverteidigers schwarz und die des Herausforderers weiß markiert sind. Solche Deutungen sind jedoch so spitzfindig und so weit hergeholt, dass es plausibler scheint, die Pixelmuster zunächst einmal als autonome Kompositionen zu betrachten, als Bilder, die – wie etwa abstrakte Gemälde von Mark Tobey – nur ihre eigenen Qualitäten zur Schau stellen.


Als die beiden Erfinder des von der Bahn benutzten Verschlüsselungscodes, Andrew Longacre Jr., und Rob Hussey, ihr Verfahren am 15. Mai 1995 mit der Nummer 5591956 bei der Patentbehörde der USA anmeldeten, hatten sie für diesen Code noch keinen Namen gefunden, aber schon wenig später wurde die Bezeichnung »Aztec Code« in Umlauf gebracht, weil die quadratischen Raster an die Tempel der Azteken erinnerten, die sich über einer quadratischen Grundfläche in mehreren Stufen bis zu einer, wiederum quadratischen Plattform erheben, die sich genau in der Mitte an der höchsten Stelle des Bauwerks befindet. Paradoxerweise verdankt der »Aztekencode« seinen Namen also dem Umstand, dass man diesen Code gerade nicht als Code betrachtet, sondern als Bild.

Wie der Zufall es fügte, hatten die Azteken ihrerseits schon eine Bildsprache, in der unter anderem Quadrate, Dreiecke und Rechtecke verwendet wurden. Ein Fragment eines Schriftstücks, in dem solche Zeichen vorkommen, wurde von Alexander von Humboldt bei seiner Mexikoreise in den Jahren 1803–1804 erworben und wenig später in seinem Buch Vues des cordillères, et monuments des peuples indigènes de l’Amérique einem breiten Publikum bekannt gemacht. Es handelt sich um eine Auflistung der Abgaben, die von den Einwohnern einer bestimmten Provinz an die dort herrschenden Azteken zu leisten waren. Abzugeben war vor allem Gold – Gold in Gestalt von Goldbarren, Blattgold oder Goldstücken, und es ist wohl kein Zufall, dass diese verschiedenen Formen von Gold durch geometrische Figuren bezeichnet wurden. Diese passen aufgrund ihrer Abstraktheit besonders gut zu Gold, denn Gold, das damals schon die Funktion von Geld übernommen hatte, verkörpert nicht nur eine unbegrenzt austauschbare Form des Reichtums, es ist zugleich ein Ausdruck von sozialen Beziehungen, die durch Abstraktion und Entfremdung gekennzeichnet sind.


Dass man abstrakte Zeichen als Symptome abstrakter Verhältnisse verstehen kann, konstatiert noch Theodor Adorno in seiner Ästhetischen Theorie: »Neue Kunst ist so abstrakt, wie die Beziehungen der Menschen in Wahrheit es geworden sind.« Dem hätte, bei anderer Wortwahl, auch Martin Heidegger beistimmen können. Nach seiner Überzeugung hat sich in unserem gegenwärtigen »technischen Zeitalter« das Verhältnis der Menschen zu den Dingen so sehr instrumentalisiert, dass alles zu beliebig austauschbarem »Bestand« degradiert wird. »Dass in einem solchen Zeitalter die Kunst zur gegenstandslosen wird«, fügt er dann hinzu, »bezeugt ihre geschichtliche Rechtmäßigkeit«.

In den Achtziger Jahren versuchten einige Maler, Konsequenzen aus solchen – eher pessimistischen – Ansichten über die gesellschaftlichen Hintergründe der künstlerischen Abstraktion zu ziehen. Einer ihrer Wortführer war Peter Halley. 1984 malte er ein 160 mal 183 Zentimeter großes Bild mit dem Titel Ideal City. Zunächst grundierte er die Leinwand mit einer Schicht aus ordinärem Gips, wie man ihn damals gern zur Dekoration italienischer Gaststätten verwendete, dann malte er darauf mit leuchtenden, zum Teil fluoreszierenden Acrylfarben ein querrechteckiges rotes Feld, das von einem breiten schwarzen Rand umgeben ist, aber auf der linken Seite einen schmalen »Ausgang« freilässt. Innerhalb des roten Feldes sind neun Quadrate von etwas dunklerem Rot in drei Zeilen und drei Spalten angeordnet. Wenn man sich nun vorstellt, wie sich diese Quadrate bewegen könnten, gewinnt man den Eindruck, dass dies eigentlich nur in horizontaler und in vertikaler Richtung möglich ist. Zudem deutet allein schon ihre Anordnung darauf hin, dass die Quadrate anscheinend einem strengen Reglement gehorchen, so dass sie sich gar nicht von sich aus bewegen könnten. Sie stecken fest und sind gefangen. Die geometrische Ordnung zeigt also nur zum Schein ein ausgeglichenes Arrangement, zeugt aber bei näherem Hinsehen eher von struktureller Macht, gewaltsamer Aufteilung des Terrains und unauffälliger Kontrolle. Nach Halleys Überzeugung besteht die »ideale Stadt« unter den Bedingungen unserer heutigen kybernetisch gesteuerten Gesellschaft aus isolierten Zellen, die durch verborgene Schaltkreise miteinander verbundenen sind.

Ob sich die düstere Vision, die Halley mit seinem Werk suggerieren möchte, unabhängig von seinen eloquenten Erläuterungen, allein aus der unmittelbaren Anschauung erschließt, scheint allerdings zweifelhaft. Das liegt vor allem daran, dass Bilder schon aus Prinzip wenig geeignet sind, klare und eindeutige Aussagen zu machen. Sie neigen naturgemäß eher zur Ambivalenz und visueller Unbestimmtheit. Diese kann man eliminieren, wobei das Bild, wie im Falle der Pixelmuster der Deutschen Bahn, den Charakter einer Schrift erhält. Man kann aber auch auf das genaue Gegenteil hinwirken. Als ein besonders eindrucksvolles Beispiel bietet sich hierfür ein etwa 90 mal 90 Zentimeter großes Gemälde von Bridget Riley mit dem Titel Hidden Squares aus dem Jahre 1961 an, das auf den ersten Blick einiges mit den Pixelmustern der Bahn gemein zu haben scheint. Es operiert, genau wie jene, mit dem kleinstmöglichen Repertoire von nur zwei verschiedenen Zeichen. Beim Aztekencode sind das die kleinen weißen und die kleinen schwarzen Quadrate. Bei Riley wird die weiße Farbe zum Hintergrund für die Verwendung von zwei verschiedenen Zeichen in schwarzer Farbe: kleinen Quadraten und kleinen Kreisen. Diese sind in 48 Zeilen und 48 Spalten angeordnet, so dass auch hier wieder ein quadratisches Bildfeld entsteht. Schon beim ersten Blick auf dieses Arrangement werden aber auch fundamentale Unterschiede deutlich. Es ist unübersehbar, dass hier visuelle Prozesse ermöglicht werden, die für die Zwecke der Aztekencodierung völlig belanglos wären. Man sieht, dass sich innerhalb des Bildfeldes vier geometrische Figuren vom Hintergrund abheben: drei Quadrate von verschiedenen Größen sowie ein Rechteck. Wenn man versucht, das Auge auf deren Ränder zu fokussieren, verliert man sofort die jeweiligen Figuren als Ganze aus dem Blick. Wenn man – umgekehrt – versucht, sich auf die Formen in ihrer Gesamtheit zu konzentrieren, lösen sich deren Begrenzungen ins Ungefähre auf. Alles, was man fixieren will, verschwindet. Diese Destabilisierung entzieht uns die Möglichkeit einer definitiven Bestimmung des Gesehenen, ermöglicht dadurch aber, wie man mit Kant sagen könnte, eine andere, eher reflexive, spielerische und nicht determinierende Weise der Betrachtung.


Eine solcher Zugang wäre bei den Pixelmustern der Bahn gänzlich fehl am Platz. Sie enthalten präzise Angaben über den Zug, den Abfahrts- und den Zielbahnhof, den Streckenverlauf, die Person, die den Zug benutzen darf, die Geldsumme, die hierfür gezahlt wurde, und womöglich noch weiteres, wovon wir nichts wissen. Da uns diese Informationen unzugänglich sind, halten wir uns an das, was wir faktisch vor Augen haben: die jeweils individuellen Konstellationen von kleinen schwarzen und weißen Quadraten, die wir nur im Hinblick auf formale Relationen betrachten können. Dass wir solche Relationen entdecken, ist sehr wahrscheinlich, denn mehr als sechstausend Pixel werden niemals völlig beziehungslose Aggregate bilden. Unsere Augen sind gewohnt, überall visuelle Beziehungen herzustellen und selbst vage Andeutungen zu Gestalten zu ergänzen. So bemerken wir Verbindungen, Verdichtungen, imaginäre Linien, Strukturen, Energieströme, Bewegungen nach oben oder unten oder seitwärts, offensichtliche Relationen aber auch unauffällige, subkutane, getarnte Relationen, verweigerte Relationen, Zonen der Schwerkraft und Zonen des Schwebens, Zonen der Spannung, der Diffusion und der Entropie.


Das Lesegerät, das den Aztekencode entziffert, kann – und muss – alles dies ignorieren. Seine Aufgabe besteht darin, das flächige Nebeneinander der Pixel in ein lineares Nacheinander zu verwandeln. Maschinen fällt so etwas nicht schwer, Menschen hingegen schon. Sie sehen, anders als Maschinen, keine Abfolgen von isolierten Einzelelementen, sie sehen Ganzheiten.

Als eine solche Ganzheit präsentiert sich auch das letzte Bild, das hier kurz erwähnt werden soll. Wir sehen ein querformatiges Rechteck, das wieder in senkrechte Spalten und waagerechte Zeilen gegliedert ist. Das filigrane Raster, das dabei entsteht, wird von diagonalen Linien durchkreuzt, so dass sich eine Komposition ergibt, die mit ihrer dezenten Linienführung und ihrer kompositorischen Eleganz einer Zeichnung von Agnes Martin in nichts nachsteht. Das Bild könnte ohne weiteres als eine abstrakte Graphik durchgehen. Faktisch wurde es aber für einen ganz bestimmten praktischen Zweck geschaffen, denn was man hier sieht, ist ein Fahrplan der Eisenbahnlinie von Paris nach Lyon. Das bemerkt man deshalb nicht sofort, weil die Reproduktion unvollständig ist. Es fehlen die Beschriftungen an den Rändern. Von oben nach unten wären die Bahnhöfe einzutragen, die auf der Strecke liegen, sowie von links nach rechts die Stunden des Tages, die jeweils in sechs Einheiten von zehn Minuten unterteilt sind. Wenn man die beiden Achsen von Raum und Zeit solchermaßen konkretisiert, kann man zum Beispiel ganz einfach ablesen, dass ein Zug, der um elf Uhr in Paris abfährt, um halb sechs Dijon erreicht, von wo er nach einer halben Stunde weiterfährt und ohne weiteren Halt um zehn nach zehn in Lyon eintrifft.


Der Fahrplan wurde bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts erdacht, doch Berühmtheit erlangte er erst, nachdem er 1878 von Etienne-Jules Marey publiziert worden war. Im praktischen Gebrauch hat er sich indes nicht bewährt. Bahnreisenden wird auch heute noch nicht zugemutet, visuellen Darstellungen präzise Informationen zu entnehmen, und von dieser Aufgabe werden sie durch die Fahrscheine mit dem Aztekencode ja auch ausdrücklich entlastet.


Die Pixelmuster, in denen sich alle Informationen verbergen, sind diffuse Mischungen von schwarzen und weißen Einzelteilchen. Für menschliche Betrachter ergeben sie keinen Sinn, können aber unter Umständen, so wie alle abstrakten Bilder, ästhetische Reflexionen anregen. Die Piktogramme der Azteken bleiben für uns ebenso rätselhaft, doch es leuchtet immerhin ein, wenn man erfährt, dass die dabei verwendeten geometrischen Formen als Symbole für abstrakte Formen von Reichtum dienen mussten. Peter Halley versucht zu zeigen, dass Geometrie als eine Praxis der Abmessung und Besitzergreifung von Territorien immer schon im Dienst sozialer Machtverhältnisse steht. Demgegenüber demonstriert Bridget Riley, wie sich die Bestimmtheit geometrischer Formen im Sehen auflösen lässt, um die Reduktion der Wahrnehmung auf konditioniertes Wiederkennen zu überwinden. Und der Fahrplan aus der Frühzeit der Eisenbahn beweist, dass sich das erkennende und das sehende Sehen nicht unbedingt ausschließen.


Das führt zu der abschließenden Frage, ob sich nicht der gesamte vorliegende Text (oder auch nur das kurze Resümee aus dem vorherigen Absatz) in dieselbe visuelle Gestalt überführen ließe, die uns von den Fahrscheinen der Bahn vertraut ist. Eine solche Transformation erweist sich aufgrund der großen Datenmengen als schwierig. Doch am Schluss kann man nun zumindest bewundern, wie der letzte – also dieser – Satz aussieht, wenn man ihn mit Hilfe des Aztekencodes in eine Menge von Pixeln verwandelt.

Karlheinz Lüdeking