Aufbruch zurückSchwarzplan

Der italienische Autor und Filmemacher Pier Paolo Pasolini reiste 1963 nach Israel und Palästina. Im Heiligen Land suchte er für seinen Film Il Vangelo secondo Matteo Orte und Menschen.1 Ernüchtert kehrte er zurück: Ein vom Kapitalismus zerfurchtes Land habe er vorgefunden, von der Moderne verdorben. Die vorindustriellen Gesichter, nach denen er dort suchte, habe er weder bei der jüdischen, noch bei der arabischen Bevölkerung in Israel und Palästina ausmachen können. Aber auch die Landschaften und Städte seien zersiedelt und durch die Industrialisierung unbrauchbar. Erst im vom Katholizismus geprägten Süditalien hätte er die «spirituellen» und «vormodernen» Gesichter vorgefunden, die er für seinen Bibelfilm gesucht hatte: Hauptrollen besetzte er mit Personen aus seinem engerem Umfeld und Nebenrollen mit Frauen und Männern aus der süditalienischen Arbeiterschicht.2



Auf der Suche nach vormodernen Physiognomien – nach dem vom Industriekapitalismus unberührten Antlitz der Stadt – war auch die italienische Urbanistik vor über 50 Jahren. Doch wie wurde die Gestalt dieser alten Städte zweidimensional dargestellt? Betrachten wir einen Plan (Abb. 1). Was wir sehen, erinnert an ein unregelmäßiges Schachbrett. Eine amorphe, aber doch hochdifferenzierte Masse aus Schwarz-Weiß. Das Schachbrett nimmt eine sechseckige Form an. Die Figur ist nicht geometrisch, aber offensichtlich konstruiert. Sie hat ein Innen und ein Außen; das Außen ist offenkundig leer und unberührt, während wir im Inneren ein Mosaik aus heterogenen Flächen und Schraffuren sehen. Scheinbar aleatorisch sind die Flächen gefügt, aber das Auge sucht nach Ordnung. Welche Raster werden lesbar? Wo nähern sich die Muster dem Kreis, wo dem rechten Winkel? Ist es eine Art organische Struktur? Ist gesetzmäßiges Wachstum oder technische Konstruktion zu sehen? Nur die scharfe Grenze der sechseckigen Figur wirkt stabil. Innerhalb der Figur flimmern die Polygone – mal dichter, mal zusammenhangslos hängen die Formen zusammen, gleichförmig, aber doch jede für sich einzigartig. Wir sehen geometrisches Schüttgut. Ins Bild gesetzt ist die Form einer Stadt. Wir sehen Freiräume als schwarze Fläche und bebaute oder kultivierte Bereiche als weiße, mehr wird nicht gezeigt. Wir sehen organische Formen – und doch eindeutig Ergebnis menschlichen Schaffens, das abstrakte Gesicht einer Stadt.


Beim Durchwandern der Straßen summieren sich Einzeleindrücke zu einem komplexen Bild. Hier aber ist die Stadt als menschliche Siedlung vor allem als baulich-räumliche Erscheinung dargestellt. Das abstrakte Gesicht dieses Plans ist an allererster Stelle das Gesamtbild. Erst bei längerer Betrachtung fallen Details ins Auge, bestimmte städtebauliche Situationen, oder mehr oder weniger bekannte architektonische Ensembles. Dieses Bild verspricht nicht Orientierung im Sinne von Wegeverbindungen – es ist kein Stadtplan aus einem Reiseführer. Die kompakte, aber anspruchsvolle Plangrafik kommuniziert eine städtebauliche Haltung. Wir sehen einen Stadtgrundriss: Die Stadtmauern begrenzen ein Sechseck. Wo sich die schwarzen Linien zur Grenze ziehen, befinden sich ein Stadttor und eine Ausfallstraße – die Verbindungen zum Umland, eingebunden in ein schon immer europäisches Netzwerk aus Fernstraßen, noch aus der Zeit des Römischen Imperiums. In der Mitte des Sechsecks, in der sich diese Straßen treffen: Forum Romanum, Piazza Maggiore, Basilika, Rathaus, Universität. Dazwischen tummeln sich Wohngebiete, Geschäftsstraßen, Gassengewirr und Magistralen, Parks, ein Fluss. Das alles ist nur zu erahnen, Sehgewohnheiten und Reiseerfahrungen helfen uns dabei.


Nur wer um die Geschichte der Stadt weiß, erkennt in Rudimenten den Decumanus und den Kardo, die wichtigsten Straßen römischer Kolonien, erkennt die langobardische Stadterweiterung und die drei Ringe der historischen Stadtbefestigungen, kann den Piazza Maggiore und die Basilika ausmachen, den barocken Montagnola-Park oder auch das Rathaus. Wer die Stadt kennt, wird sie wahrscheinlich auch aus dem Gefüge der weißen Polygone herauslesen können und im unübersichtlichen Gefüge aus Schwarz-Weiß den Ort und seine Geschichte vergegenwärtigen. Wir sehen Bologna: antiker Verkehrsknotenpunkt, historische Hauptstadt der Emilia-Romagna, Mutter der ältesten Universität Europas: Stadt der Türme, Stadt der Gelehrten, die fette Stadt, die rote Stadt. Genauer: Wir sehen einen Schwarzplan von Bologna. Der Schwarzplan ist in seiner Schwarz-Weiß-Logik das eindeutigste aller urbanistischen Darstellungsmittel. Er kennt keine Schattierung, keine Graustufen. Der Schwarzplan ist binär, er unterscheidet nur zwischen bebaut und unbebaut. Aber obwohl er keine Binnendifferenzierung vornimmt, ist die Darstellungsweise auf eine erstaunliche Weise vielschichtig.

Schwarzplandarstellungen gehören zu den beliebtesten grafischen Darstellungen der gebauten Umwelt. Zurück geht sie auf den Kartographen Giovanni Battista Nolli (1701-1756), der 1748 die Nuova Topografia di Roma zeichnete, einen präzisen Straßenplan der Innenstadt Roms, erweitert um Grundrisse wichtiger öffentlicher Bauten (Abb. 2). Diese Form der Darstellung sollte die Stadtansichten des Mittelalters und der frühen Neuzeit ablösen. Unter anderem das erstarkende Fiskalwesen oder etwa der aufkommende (Pilger-)Tourismus hatten die präzisen städtischen Kartierungen notwendig gemacht. In der architektonischen Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verloren der Schwarzplan und sein Gegenstand – der gefasste Stadtraum – scheinbar an Bedeutung. Erst ab den 1960er Jahren wurde er wieder gezielt popularisiert. Eine Rolle dabei spielte zum Beispiel der Architekt Colin Rowe, dessen Gestalt-Theorie der Stadt (Collage City, 1979) als Abgesang an den vermeintlichen Ordnungswahn der städtebaulichen Moderne immer noch als Klassiker gilt.3


Der hier abgebildete Schwarzplan (Abb. 1) zeigt den Stadtgrundriss Bolognas zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er ist dem städtebauhistorischen Standardwerk Die Geschichte der Stadt des italienischen Architekturhistorikers Leonardo Benevolo, erschienen 1975, entnommen;4 ihn zeichnete wahrscheinlich zwischen 1962 und 1965 eine Gruppe von Architekturhistorikern, die beauftragt wurde, eine Studie über die Altstadt von Bologna anzufertigen. Die Untersuchung geleitet hatte Leonardo Benevolo, damals Architekturprofessor in Florenz.

Die städtebaugeschichtlichen Forschungen waren Teil des Aufbruchs zu einer neuen Planung für die alte Stadt. Hier in Bologna konzipierten intellektuelle, aber pragmatische linke Fachleute zusammen mit der kommunistischen Stadtregierung eine neue Form der Stadterneuerung. So wurde die Stadt ab dem Ende der 1960er Jahre zu einem Laboratorium und zu einem Pilgerort für die europäische Fachöffentlichkeit: Konzepte der Altstadtsanierung, die auf Flächenabrissen beruhten, sollten einem behutsameren Ansatz weichen. Die physische Zerstörung der Altstadt war eben wie die Auflösung sozialer Zusammenhänge zum Schreckbild geworden. Neben der Sanierung historischer Gebäude ging es auch um eine neue Wertschätzung für die Qualitäten öffentlicher Räume und um eine Kritik der autogerechten Stadt. Das Bologneser Modell, nur das bekannteste Beispiel für die sogenannte Wiederentdeckung der alten Stadt in Europa, wurde zum Exportschlager und zum Leitbild einer ganzen Generation von Fachleuten.


Die städtebauhistorische Untersuchung der Florentinischen Experten rückte typologische Aspekte der Reihenhäuser in den alten Handwerkervierteln und den Bedeutungsüberschuss des Stadtgrundrisses gegenüber den Denkmalwerten einzelner Gebäude in den Vordergrund – und bereitete so die Stadtsanierung direkt mit vor. Das Leitbild war die konsequente Fortschreibung dessen, was als mittelalterliches Stadtzentrum aufgefasst wurde: ein baulich-räumlich, funktionell und sozial idealisiertes und kulturhistorisch aufgewertetes Bild von Alt-Stadt diente fortan als Blaupause progressiver Stadtentwicklung. Der Schwarzplan ist also auch in seiner Chronologie binär. Indem Benevolo genau diesen Plan auswählt, verortet – und verräumlicht – er einen städtebaulichen Bruch in der Geschichte der (europäischen) Stadt am Beginn des 19. Jahrhunderts. Nicht zufällig setzt er die Zäsur an den «Beginn des letzten Jahrhunderts», wie die Bildunterschrift verrät. Denn der Träger kultureller Identität, so Benevolo, könne nur das vormoderne Stadtzentrum sein. Eine nicht näher definierte «moderne Stadt» wird gegen die Altstadt – als physischer Raum genau wie als intellektuelle Bildwelt – ausgespielt: ein Hort städtischer Funktionen, ein «Lebensraum», eine Symbolträgerin lokaler Geschichte und eine statische Konstruktion kultureller Stadt-Identität.5


Und so ist auch die Umkehrung – schwarz der Freiraum, weiß die Gebäude – kein Zufall. Die meisten Schwarzpläne zeigen das Bebaute in Schwarz, die Freiflächen bleiben weiß (Abb. 2). Wie in einem Buch stehen die Gebäude (als Buchstaben) auf dem Land (als Papier). Hier ist das anders (Abb. 1): Nicht die Masse der Baukörper ist der Gegenstand der Darstellung, sondern das Gefüge der Räume, die aus Straßen, Plätzen und Parks entstehen. Der Stadtraum ist der Gegenstand. Er wird lesbar gemacht wie in einem Buch. Die Aussage ist eindeutig: nicht der Einzelbau, nur das Ensemble forme die Gestalt der Stadt – und das über Jahrhunderte hinweg. Die Industriemoderne bringe dieses identitätsbildende Raumgefüge in Gefahr, suggeriert der Plan. Das geschlossene Ganze, das Vollkommene – das sich in der sechseckigen Figur noch heil und ganz darstellt – wird als bedroht wahrgenommen. Die Altstadt erscheint hier als die humanistische Figur einer Festung, wehrhaft gegen den Angriff, der hier als die Ortlosigkeit der Entfremdung auftritt. Dieser empfundenen Leere wird die Unverwechselbarkeit der historischen Figur des Stadtgrundrisses gegenübergestellt.


Der Schwarzplan ist also nicht nur in der ästhetischen Anmutung eindeutig kontrastierend. Pasolini hat damals seinen Evangeliums-Film für die Fortschrittsgesellschaft der 1960er Jahre gedreht. Ähnlich wie der bekennende Kommunist Pasolini Gesichter und Landschaften für seinen Bibelfilm mit spirituellen Vorstellungen aufgeladen hat, wurden in Bologna idealisierte Stadtbilder herangezogen, um den progressiven Ansatz der Stadterneuerung darzulegen. Das ist der Aufbruch zurück. Die historische Stoßrichtung der linken Stadtplaner zeigte in beide Richtungen: Die bessere Zukunft in einer abstrahierten – vielleicht auch geschönten – Vergangenheit. Und wo wenn nicht in den alten Handwerksvierteln Bolognas konnte diese Zukunft liegen? Die alte Stadt wird zum Leitmotiv des Kommenden. Der Schwarzplan wird zum Kronzeugen dieser Stadtentwicklungspolitik. Er zeigt die «Alt-Stadt» – weiß auf schwarz.

Jannik Noeske
  1. Pier Paolo Pasolini, Sopralluoghi in Palestina per il vangelo secondo Matteo, Rom 1965, Arco Film, 54 min

  2. Vgl. Brenez, Nicole, Der figurative Unterschied. Pier Paolo Pasolini: Il Vangelo secondo Matteo, in: Christa Blümlinger u. Karl Sierek (Hg.), Das Gesicht im Zeitalter des bewegten Bildes, Wien Sonderzahl 2002, S. 113-132.

  3. Vgl. Michael Hebbert, Figure-ground: history and practice of a planning technique, in: Town Planing Review 87 (6) 2016, S. 705-728.

  4. Leonardo Benevolo, La storia della città, Bari 1975; ders., Die Geschichte der Stadt, Frankfurt am Main u. New York 1983.

  5. Filippo De Pieri u. Paolo Scrivano, Representing the «Historical Centre of Bologna». Preservation Policies and Reinvention of an Urban Identity, Urban History Review, Herbst 2004, 34-45.